Huxley, Aldous Die Kunst des Sehens

PIPER

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Für M.

Übersetzung aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Christoph Graf.

Der Übersetzer dankt Constanze Hub und Werner Voigt für ihre freundliche Unterstützung.

ISBN 978-3-492-97655-8

Mai 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Mrs. Laura Huxley 1943

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Art of Seeing«, Chatto & Windus, London 1943

© für die deutschsprachige Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1982

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Enno Kleinert / die KLEINERT.de

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Vorwort

Mit sechzehn Jahren erkrankte ich an einer schweren Keratitis punctata, die mir (nach achtzehn Monaten fast völliger Blindheit, während der ich beim Lesen auf Brailleschrift und beim Gehen auf eine Hilfsperson angewiesen war) an einem Auge nur die Hell-Dunkel-Wahrnehmung ließ und am anderen die Sehschärfe so weit herabsetzte, daß ich auf der Snellen-Sehprobentafel die Sechzig-Meter-Buchstaben aus drei Meter Entfernung nur knapp erkennen konnte. Die Verminderung meiner Sehkraft beruhte hauptsächlich auf Trübungen der Hornhaut; dazu kamen Übersichtigkeit und Hornhautverkrümmung. Zum Lesen empfahlen mir meine Ärzte während der ersten Jahre ein starkes Vergrößerungsglas. Später wurde ich zum Brillenträger »befördert«. Mit Hilfe der Brille konnte ich aus drei Meter Entfernung die Fünfundzwanzig-Meter-Zeichen erkennen, und ich konnte leidlich lesen – vorausgesetzt, daß ich die Pupille des besseren Auges mit Atropin erweitert hielt, um so an einer besonders dichten Trübung in der Mitte der Hornhaut vorbeizusehen. Allerdings verspürte ich stets eine gewisse Anstrengung und Ermüdung, und gelegentlich überwältigte mich jenes Gefühl totaler körperlicher und geistiger Erschöpfung, das nur durch die Überanstrengung der Augen hervorgerufen wird. Aber ich war dankbar, wenigstens das zu sehen, was ich damals sehen konnte.

So blieb der Zustand bis 1939; von da an wurde das Lesen trotz stärkster Brillengläser immer schwieriger und ermüdender. Es bestand kein Zweifel: Mein Sehvermögen nahm ständig ab, und zwar ziemlich schnell. Ich fragte mich voller Sorge, was in aller Welt ich denn tun solle, falls mir das Lesen unmöglich würde; da hörte ich zufällig von einer Methode zur Schulung des Sehens und von einem Lehrer, der dem Vernehmen nach diese Methode mit ausgezeichnetem Erfolg anwendete. »Schulung« hörte sich ganz harmlos an, und da die Brille mir nicht mehr half, beschloß ich, dieses Abenteuer zu wagen. Nach einigen Monaten konnte ich ohne Brille lesen, und zwar, was besonders erfreulich war, ohne jede Anstrengung und Ermüdung. Die chronischen Verspannungen und die gelegentlichen schweren Erschöpfungszustände gehörten der Vergangenheit an. Darüber hinaus gab es deutliche Anzeichen, daß sich die über fünfundzwanzig Jahre unverändert gebliebenen Hornhauttrübungen aufzuhellen begannen. Gegenwärtig ist mein Sehvermögen, obwohl noch immer weit vom normalen entfernt, etwa doppelt so gut wie zu der Zeit, als ich eine Brille trug und die Kunst des Sehens noch nicht beherrschte. Die Trübungen hellten sich so weit auf, daß ich mit dem schlechteren Auge, welches über Jahre nur Hell und Dunkel hatte unterscheiden können, aus dreißig Zentimeter Entfernung die Drei-Meter-Zeile auf der Sehprobentafel erkennen kann.

Ich habe dieses kleine Buch in erster Linie aus tiefer Dankbarkeit geschrieben – aus Dankbarkeit gegenüber dem Pionier der Augenschulung, dem verstorbenen Dr. W. H. Bates, und gegenüber seiner Schülerin, Frau M. D. Corbett, deren didaktischem Geschick ich die Verbesserung meiner Sehkraft verdanke.

Es ist eine Reihe anderer Bücher über visuelle Erziehung publiziert worden – zu nennen sind vor allem Dr. Bates’ »Perfect Sight Without Glasses« (New York 1920), Frau Corbetts »How to Improve Your Eyes« (Los Angeles 1938) und »The Improvement of Sight by Natural Methods« (London 1934) von C. S. Price. Sie alle sind auf ihre Art wertvoll; aber in keinem (zumindest derjenigen, die ich gelesen habe) wurde angestrebt, was ich in diesem kleinen Buch versucht habe: die Methoden der visuellen Erziehung zu den Erkenntnissen der modernen Psychologie und kritischen Philosophie in Beziehung zu setzen. Mittels dieser Korrelation möchte ich aufzeigen, wie sinnvoll eine Methode grundsätzlich sein kann, die lediglich bestimmte theoretische, allgemein als gültig anerkannte Prinzipien in die Praxis umsetzt.

Warum, so mag man fragen, haben die Schul-Ophthalmologen nicht schon längst diese allgemein anerkannten Prinzipien berücksichtigt? Die Antwort ist klar: Seit der Zeit, da die Ophthalmologie zur Wissenschaft wurde, haben sich die sie ausübenden Ärzte ausschließlich mit einem Aspekt des ganzen komplexen Sehvorgangs beschäftigt – mit dem physiologischen. Sie haben sich ausschließlich den Augen zugewandt und den menschlichen Geist, der sich ja der Augen zum Sehen bedient, außer acht gelassen. Ich bin von den berühmtesten Kapazitäten des Fachs behandelt worden, ohne daß eine einzige auch nur mit einer Silbe von einem geistigen Aspekt des Sehens gesprochen oder erwähnt hätte, daß man Auge und Gehirn auch falsch gebrauchen kann. Nachdem meine Ärzte mit viel Geschick die akute Infektion meiner Augen unter Kontrolle gebracht hatten, verschrieben sie mir optische Hilfsmittel und entließen mich. Es war ihnen, wie praktisch allen anderen Schul-Ophthalmologen, völlig gleichgültig, ob ich nun meinen Geist und meine bebrillten Augen richtig oder falsch einsetzte und was für Auswirkungen ein falscher Gebrauch meiner Augen möglicherweise haben könnte. Dr. Bates waren diese Dinge nicht gleichgültig, im Gegenteil. Deshalb entwickelte er in jahrelanger experimenteller und klinischer Arbeit seine einzigartige Methode der Augenschulung. Daß diese Methode grundsätzlich richtig ist, beweist ihre Wirksamkeit.

Mein eigener Fall ist in keiner Weise einzigartig; Tausende anderer Menschen konnten ihr schwaches Sehvermögen verbessern, indem sie die einfachen Regeln der Kunst des Sehens befolgten, die wir Bates und seiner Schule verdanken. Es ist das zentrale Anliegen dieses Buchs, noch mehr Menschen mit dieser Kunst bekannt zu machen.

Teil I

1. Medizin und vermindertes Sehvermögen

Medicus curat, natura sanat – der Arzt behandelt, die Natur heilt. Dieser alte Aphorismus umfaßt den ganzen Wirkungsbereich und die Absicht der Medizin, nämlich kranken Organismen möglichst günstige innere und äußere Bedingungen zu verschaffen, damit ihre eigenen selbstregulierenden und wiederherstellenden Kräfte zur Wirkung kommen können. Wenn es keine vis medicatrix naturae, keine heilende Kraft der Natur gäbe, wäre die Medizin machtlos und jede kleine Störung würde entweder geradewegs zum Tod führen oder eine chronische Krankheit hervorrufen.

Unter günstigen Voraussetzungen wird sich ein kranker Organismus vermöge seiner Selbstheilungskraft erholen. Wenn er sich nicht erholt, so bedeutet dies entweder, daß der Fall hoffnungslos ist, oder daß die Voraussetzungen für eine Heilung nicht günstig sind – mit anderen Worten, daß die angewandte medizinische Behandlung nicht die gewünschte Wirkung zeigt, also nicht adäquat sein kann.

Die übliche Behandlung von Sehfehlern

Im Lichte dieser allgemeinen Prinzipien wollen wir nun die gegenwärtig angewendete medizinische Behandlung von Sehfehlera betrachten. In den meisten Fällen besteht die Behandlung einzig darin, dem Patienten optisch geschliffene Gläser anzupassen, die den Brechungsfehler beheben sollen, der für die Fehlsichtigkeit verantwortlich gemacht wird. Medicus curat; und die Mehrzahl der Patienten wird dadurch zufriedengestellt, daß sie sofort besser sehen kann. Wie steht es aber mit der Natur und ihrem Heilungsprozeß? Beseitigen Brillengläser die Ursachen der Sehfehler? Entwickeln die Sehorgane aufgrund der Behandlung mit geschliffenen Gläsern wieder ihre normale Funktion? Die Antwort auf diese Fragen ist nein. Brillengläser neutralisieren zwar die Symptome, beheben aber nicht die Ursachen der Fehlsichtigkeit. Und so, weit entfernt von einer Besserung, neigen die mit diesen Hilfsmitteln ausgestatteten Augen dazu, immer schwächer zu werden und immer stärkere Gläser zur Beseitigung der Symptome zu benötigen. Kurzum: Medicus curat, natura non sanat. Aus diesem Sachverhalt können wir zwei Schlußfolgerungen ziehen: Entweder sind Sehfehler unheilbar und können nur durch mechanische Neutralisation überdeckt werden; oder an der gegenwärtigen Behandlungsmethode ist etwas grundlegend falsch.

Die Schulmedizin macht die erste, pessimistischere Alternative geltend und behauptet, die mechanische Aufhebung der Symptome sei die einzige Behandlung, auf welche fehlsichtige Augen ansprechen. (Ich lasse hier alle jene mehr oder weniger akuten, durch Chirurgie und Medikamente heilbaren Augenkrankheiten außer Betracht und beschränke mich auf die viel weiter verbreiteten, heute mit Brillengläsern behandelten Fehlsichtigkeiten.)

Heilung oder Besserung der Symptome?

Wenn die Schulmeinung richtig ist – wenn die Sehorgane zur Selbstheilung unfähig sind und wenn ihre Mängel nur mit mechanischen Hilfsmitteln ausgeglichen werden können  –, dann müssen die Augen sich ihrer Natur nach von anderen Teilen des Körpers grundsätzlich unterscheiden. Unter günstigen Bedingungen neigen alle anderen Organe dazu, sich von ihren Störungen zu befreien. Nicht so die Augen. Wenn sie Schwächesymptome zeigen, dann ist es – nach schulmedizinischer Ansicht – völlig sinnlos, sich irgendwie ernsthaft um die Beseitigung der Ursachen zu bemühen, die diesen Symptomen zugrunde liegen. Selbst die Suche nach einer Behandlung, welche die Natur bei ihrer Aufgabe unterstützt  – nämlich zu heilen –, ist reine Zeitverschwendung. Fehlsichtige Augen sind, ex hypothesi, praktisch unheilbar; ihnen mangelt es an der vis medicatrix naturae. Alles, was die Augenheilkunde für sie tun kann, ist, die Symptome mit rein mechanischen Hilfsmitteln zu neutralisieren. Die einzig richtige Einschätzung dieser seltsamen Theorie kommt von seiten jener, die sich mit den äußeren Bedingungen des Sehvorgangs befassen. Hier zum Beispiel einige wichtige Passagen aus dem Buch »Seeing and Human Welfare« von Dr. Matthew Luckiesh, Direktor der Forschungsabteilung für Beleuchtungstechnik der General Electric Company. Brillengläser (jene »wertvollen Krücken«, wie Dr. Luckiesh sie nennt) »wirken zwar den Folgen von Vererbung, Alter und Mißbrauch entgegen; sie behandeln aber nicht die Ursachen«. »Angenommen, schwache Augen könnten in gelähmte Beine verwandelt werden: Was für ein herzzerreißendes Bild würde sich uns auf jeder belebten Straße bieten! Fast jeder zweite würde hinken. Viele würden an Krücken gehen und einige in Rollstühlen fahren. Wieviele dieser krankhaften Zustände der Augen lassen sich aber auf mangelhafte Sehbedingungen zurückführen, das heißt auf Gleichgültigkeit gegenüber dem Sehvorgang an sich? Statistiken darüber liegen nicht vor, aber das Studium des Sehvorgangs und seiner Voraussetzungen läßt darauf schließen, daß die meisten dieser krankhaften Zustände vermeidbar wären und die übrigen durch geeignete äußere Bedingungen vermindert oder beseitigt werden könnten.« Und weiter: »Sogar die Brechungsfehler und andere durch falschen Gebrauch der Augen entstandene Abnormitäten müssen nicht notwendig ein bleibendes Übel sein. Wenn wir krank werden, leistet die Natur ihren Beitrag zur Heilung, vorausgesetzt, wir steuern den unseren bei. Die Augen haben, zumindest in gewissem Ausmaß, mannigfaltige Selbstheilungskräfte. Es ist immer hilfreich, dem falschen Gebrauch der Augen durch Verbesserung der Sehbedingungen entgegenzuwirken, und es sind viele Fälle bekannt, bei denen in der Folge eine starke Besserung eingetreten ist. Ohne Korrektur der falschen Sehgewohnheiten verschlimmert sich aber die Störung im allgemeinen.« Diese ermutigenden Worte lassen die Beschreibung einer neuen, wirklich kausalen Behandlung der Sehfehler erwarten, welche die heutige, nur symptombezogene Therapie ersetzen könnte. Diese Hoffnung wird aber nur zum Teil erfüllt. »Schlechte Beleuchtung«, fährt Dr. Luckiesh fort, »ist der wichtigste und häufigste Grund für die Überanstrengung der Augen, die ihrerseits oft zu zunehmenden Störungen und Schäden führt.« Sein Buch behandelt dieses Thema in allen Variationen. Ich möchte aber sogleich hinzufügen, daß die Arbeit innerhalb ihrer Grenzen wirklich bemerkenswert ist. Für Sehbehinderte ist gute Beleuchtung tatsächlich sehr wichtig, und man kann Dr. Luckiesh nur dafür danken, daß er dem Begriff »gute Beleuchtung« wissenschaftliche klare, standardisierte physikalische Einheiten, sogenannte Lux, zuordnet. Nur möchte man einwenden, Lux sind nicht genug. Wenn ein Arzt andere Teile des Organismus behandelt, beschränkt er sich nicht darauf, die äußeren Funktionsbedingungen zu verbessern; er versucht, ebenso auf die inneren Bedingungen des kranken Organs, direkt auf dessen physiologische Umgebung einzuwirken, so wie er auf die äußere Umgebung des Körpers einwirkt. Demgemäß weigert sich ein Arzt auch, einen Patienten mit gelähmten Beinen nun ewig an Krücken gehen zu lassen. Und er nimmt nicht an, Vorschriften zur Verhütung von Unfällen genügten zur Behandlung von Krüppeln. Im Gegenteil, er betrachtet den Gebrauch von Krücken nur als einen vorübergehenden Notbehelf; er wird sich nicht nur um die äußeren Gegebenheiten kümmern, sondern auch die Bedingungen in dem geschädigten Organ selbst zu verbessern suchen, um so die Natur bei ihrem Heilungsprozeß zu unterstützen. Einige seiner Maßnahmen, wie Bettruhe, Massage, Anwendung von Wärme und Licht, richten sich nicht an die Psyche des Patienten, sondern direkt an das Versehrte Organ; sie sollen zur Entspannung führen, die Blutzirkulation anregen und die Beweglichkeit erhalten. Andere, erzieherische Maßnahmen sollen beim Patienten die Wechselbeziehung zwischen Psyche und Körper verbessern. Durch diesen Appell an die geistigen Kräfte werden oft erstaunliche Resultate erzielt. Ein guter Lehrer kann, wenn er die richtige Technik benutzt, das Opfer eines Unfalls oder einer Lähmungskrankheit oft schrittweise zur Wiedergewinnung der verlorenen Funktion hinführen und so zur Wiederherstellung der Gesundheit und zur Integrität des geschädigten Organs beitragen. Warum sollte, was für geschädigte Beine getan werden kann, analog nicht auch für geschädigte Augen getan werden können? Auf diese Frage gibt die Schulmedizin keine Antwort – sie nimmt einfach an, daß fehlsichtige Augen unheilbar sind und nicht durch irgendwelche Wechselbeziehungen zwischen Psyche und Körper beeinflußt und normalisiert werden können, obwohl die Augen besonders innig mit der Psyche verbunden sind.

Die orthodoxe Theorie ist schon auf den ersten Blick so unplausibel, so absolut unglaubhaft, daß man sich über ihre allgemeine und unbestrittene Aufnahme nur wundern kann. Aber die Macht der Gewohnheit und der Autorität ist so groß, daß wir alle diese Theorie akzeptieren. Zum jetzigen Zeitpunkt wird sie nur von jenen abgelehnt, die aus eigener Erfahrung wissen, daß sie falsch ist. Zufällig bin ich einer von jenen. Es war mir vergönnt, selbst die Entdeckung zu machen, daß die vis medicatrix naturae den Augen nicht fehlt, daß die Linderung von Symptomen nicht die einzige Behandlungsmöglichkeit mangelhaften Sehens ist, daß die Sehfunktion durch geeignete Koordination von Psyche und Körper normalisiert werden kann und schließlich daß sich mit der Funktion auch die Struktur des geschädigten Organs verbessert. Diese persönliche Erfahrung wurde durch meine Beobachtung vieler anderer, die die gleiche visuelle Schulung durchlaufen haben, bestätigt. Deshalb ist es unmöglich für mich, länger die gängige Lehrmeinung mit ihren hoffnungslos pessimistischen Schlußfolgerungen zu akzeptieren.

2. Erziehung zum richtigen Sehen – eine neue Methode

Anfang dieses Jahrhunderts gab sich ein New Yorker Augenarzt, Dr. W. H. Bates, mit der üblichen symptomatischen Behandlung der Augen nicht mehr zufrieden. Er suchte nach einer Möglichkeit, Fehlsichtigkeit durch geeignete visuelle Erziehung wieder zu normalisieren und so die Verwendung von Brillengläsern zu umgehen.

Aufgrund seiner Arbeit an einer großen Zahl von Patienten kam er zu dem Schluß, daß es sich bei den meisten Fehlsichtigkeiten um funktionelle, durch falsche Sehgewohnheiten hervorgerufene Störungen handele. Es fiel ihm auf, daß die falschen Sehgewohnheiten immer mit einer gewissen Anstrengung und Verspannung gekoppelt waren. Die Anstrengung wirkte sich sowohl auf den Körper als auch auf den Geist aus, was im Hinblick auf die Einheit von Seele und Körper des Menschen zu erwarten gewesen war.

Dr. Bates entdeckte, daß der Spannungszustand durch geeignete Übungen beseitigt werden konnte. Sobald dies erreicht war – das heißt sobald die Patienten gelernt hatten, Auge und Gehirn entspannt zu gebrauchen –, besserte sich das Sehvermögen und die Brechungsfehler der Augen verschwanden von selbst. Die Übungen dienten dazu, die falschen, für Sehfehler verantwortlichen Sehgewohnheiten durch neue, richtige zu ersetzen. In vielen Fällen normalisierte sich dadurch die Funktion vollständig und bleibend.

Eine Verbesserung der Funktion geht aber immer mit einer Verbesserung der organischen Struktur einher. Dies ist ein allgemein bekanntes physiologisches Prinzip. Wie Dr. Bates herausfand, macht das Auge keine Ausnahme von dieser Regel. Wenn der Patient lernte, sich zu entspannen und richtig zu sehen, erhielt die vis medicatrix naturae eine Chance, zu wirken – mit dem Ergebnis, daß häufig auf die Verbesserung der Funktion eine vollständige Wiederherstellung der Gesundheit und Integrität des erkrankten Auges folgte.

Dr. Bates starb 1931; er arbeitete bis zu seinem Tod an der Weiterentwicklung und Vervollkommnung seiner Methoden zur Verbesserung der Sehfunktion. Auch seine über weite Teile der Welt verstreuten Schüler erarbeiteten während seiner letzten Lebensjahre und nach seinem Tod wertvolle neue Anwendungsmöglichkeiten der von ihm beschriebenen allgemeinen Grundsätze. Mittels dieser Übungen konnten Sehschwächen aller Art bei unzählig vielen Männern, Frauen und Kindern geheilt oder zumindest gebessert werden. Wer eine Reihe solcher Fälle studiert oder sich selbst dem Lernprozeß zum richtigen Sehen unterzogen hat, kann nicht daran zweifeln, daß hier endlich eine Methode zur wirklich kausalen und nicht nur symptombezogenen Behandlung vorliegt – eine Methode, die sich nicht auf die mechanische Korrektur von Defekten beschränkt, sondern die auf die Beseitigung der physischen und psychischen Ursachen ausgerichtet ist. Und doch wird der Bates-Methode von Medizinern und Augenoptikern die Anerkennung noch immer versagt, obwohl sie seit langem bekannt ist und obwohl die Ergebnisse, die sie unter der Leitung von erfahrenen Lehrern bringt, in Qualität und Quantität beachtlich sind. Ich glaube, es ist aufschlußreich, die Hauptgründe für diesen meiner Meinung nach bedauerlichen Sachverhalt aufzuzeigen und zu untersuchen.

Gegenargumente der Schulmedizin

Zunächst einmal genügt allein die Tatsache, daß die Methode nicht anerkannt ist und außerhalb des schulmedizinischen Bereichs liegt, um Spekulanten und Scharlatane anzulocken, diese Schmarotzer der Gesellschaft, die immer darauf aus sind, aus menschlichen Leiden Vorteile zu ziehen. Es gibt zwar, über die ganze Welt verstreut, einige Dutzend oder sogar Hunderte gut ausgebildeter und gewissenhafter Lehrer der Bates-Methode. Daneben gibt es aber leider auch unkundige und skrupellose Quacksalber, die von diesem Lehrsystem kaum mehr als dessen Namen wissen. Das ist bedauerlich, aber keineswegs überraschend. Die Zahl derer, die durch die übliche Behandlung der Symptome keine Verbesserung ihres Sehvermögens erfahren haben, ist groß, und gerade bei solchen Fällen gilt die Bates-Methode als besonders erfolgreich. Dazukommt, daß die Methode unorthodox ist; deshalb gibt es keine gesetzlichen Richtlinien für die Kompetenz der Lehrer. Bei einem so großen potentiellen Patientenkreis, so dringend benötigter Hilfe wird nicht viel nach Kenntnissen, Charakter und Fähigkeit gefragt. Das sind ideale Bedingungen für Scharlatanerie. Ist es also verwunderlich, daß die gebotene Gelegenheit von gewissen skrupellosen Leuten ausgenützt wird? Nur weil einige nicht schulmedizinische Praktiker Scharlatane sind, müssen es aber nicht alle sein. Ich betone: Ein solcher Schluß ist nicht zwingend. Wie aber die Geschichte fast jeder Berufsgruppe klar zeigt, würde es die offizielle Lehrmeinung am liebsten sehen, wenn es so wäre. Das ist einer der Gründe, warum in diesem besonderen Fall die ungerechtfertigte Annahme verbreitet ist, bei der ganzen Angelegenheit handle es sich schlicht um Quacksalberei – obwohl das Gegenteil offenkundig ist. Man kann Quacksalberei aber nicht dadurch verhindern, indem man eine zuverlässige Methode unterdrückt, sondern allein durch gründliche Ausbildung und Kontrolle der Lehrer. Gründliche Ausbildung und Kontrolle schaffen gleichfalls Abhilfe gegen jene konzessionierte Scharlatanerie der Optiker, die im »Reader’s Digest« (1937) und im New Yorker »World Telegram« (1942) angeprangert worden ist.

Der zweite Grund, warum die Methode abgelehnt wird, läßt sich in drei Worten zusammenfassen: Gewohnheit, Autorität und Fachidiotie. Die Symptombehandlung bei Fehlsichtigkeit wird seit langer Zeit praktiziert; sie wurde perfektioniert und hat innerhalb ihrer Grenzen recht gute Erfolge erzielt. Wenn sie gelegentlich versagt und nicht einmal die Symptome beseitigen kann, dann liegt das eben in der Natur der Sache und ist niemandes Schuld. Seit Jahren haben alle hohen medizinischen Autoritäten an dieser Meinung festgehalten  – und wer wollte es wagen, eine anerkannte Autorität in Frage zu stellen? Gewiß nicht die Mitglieder des Berufsstandes, dem diese Autorität angehört. Jede Gilde und jeder Handelsverband hat seinen eigenen esprit decorps, seine eigene Berufsehre, die für jede Rebellion von innen und jede Konkurrenz oder Kritik von außen empfindlich macht.

Dann gibt es da ein Privileg: Die Herstellung von optischem Glas ist inzwischen zu einem bedeutenden Industriezweig geworden und der Verkauf von Brillen im Einzelhandel zu einem einträglichen Geschäft, das nur von speziell geschulten Fachleuten ausgeübt werden darf. Selbstverständlich muß in diesen Kreisen ein starker Widerwille gegen jede neue Methode bestehen, die eine Anwendung von optischem Glas überflüssig macht. (Vielleicht lohnt es sich anzumerken, daß der Verbrauch von optischem Glas wohl kaum sofort spürbar abnehmen würde, selbst wenn die Bates-Methode allgemein anerkannt werden sollte. Die Umschulung zum richtigen Sehen verlangt von den Schülern ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, Zeit und Mühe. Aber Aufmerksamkeit, Zeit und Mühe sind gerade das, was die überwältigende Mehrheit der Menschen nicht investieren will, wenn sie nicht durch einen leidenschaftlichen Wunsch oder eine zwingende Notwendigkeit motiviert ist. Wer mit seiner mechanischen Sehhilfe einigermaßen zufrieden ist, wird kaum darauf verzichten, auch wenn er weiß, daß es ein Trainingssystem gibt, das nicht nur die Symptome mildern, sondern die Ursachen der Fehlsichtigkeit beseitigen kann. Solange die Kunst des Sehens den Kindern im Rahmen ihrer Erziehung nicht beigebracht wird, wird der Handel mit Brillengläsern durch eine offizielle Anerkennung dieser neuen Technik kaum nennenswerte Einbußen erleiden. Menschliche Trägheit sichert dem Optiker neunzig Prozent seines gegenwärtigen Umsatzes.)

Ein weiterer Grund für die Einstellung der Schulmedizin in dieser Angelegenheit ist rein empirischer Natur. Augenärzte und Optometristen behaupten, sie hätten die von Dr. Bates und seiner Schule beschriebenen Selbstregulations- und Heilungsvorgänge nie beobachtet. Deshalb, so schließen sie, kommen solche Phänomene auch nicht vor. Die Prämisse dieses Syllogismus ist richtig, die Schlußfolgerung falsch. Gewiß haben Augenärzte und Optometristen die von Bates und seinen Schülern beschriebenen Phänomene nie beobachtet. Aber nur, weil sie nie mit Patienten in Berührung kamen, die gelernt hatten, ihre Sehorgane entspannt und locker zu gebrauchen. Solange die Augen unter geistiger und körperlicher Anspannung stehen, wird die vis medicatrix naturae nicht zur Wirkung kommen; die Fehlsichtigkeit wird anhalten oder sich sogar verschlimmern. Augenärzte und Optometristen werden die von Bates beschriebenen Vorgänge beobachten können, sobald sie die Anspannung im Augenbereich ihrer Patienten durch Bates’ Schulung verringern. Daß sich die Phänomene unter den von Schulmedizinern geschaffenen Bedingungen nicht zeigen, bedeutet noch lange nicht, daß sie es auch nicht dann tun, wenn man durch Veränderung der Bedingungen die Heilkraft des Organismus nicht mehr einschränkt, sondern sich frei entfalten läßt.

Zu jenem empirischen Grund für die Ablehnung der Bates’schen Methode gesellt sich ein anderer, eher theoretischer. Während seines Wirkens als Augenarzt begann Dr. Bates an der allgemein anerkannten Hypothese über die Akkommodation, das heißt, die Fähigkeit des Auges, sich auf Nähe und Weite einzustellen, zu zweifeln. Dieser Mechanismus war lange Zeit Thema hitziger Debatten gewesen, bis sich die Schulmedizin schließlich vor einigen Generationen der Helmholtzschen Hypothese anschloß, welche die Akkommodation des Auges mit der Einwirkung des Ziliarmuskels auf die Linse erklärt. Bei seiner Arbeit mit fehlsichtigen Patienten beobachtete Dr. Bates eine Reihe von Vorgängen, für deren Erklärung die Helmholtzsche Theorie nicht ausreichte. Aufgrund zahlreicher Experimente an Tieren und Menschen kam er zu dem Schluß, daß entscheidend für die Akkommodation nicht die Linse, sondern die äußeren Augenmuskeln seien und daß die Weit- und Naheinstellung des Auges durch Verlängerung und Verkürzung des ganzen Augapfels geschehe. Seine Artikel über diese Experimente wurden damals in verschiedenen medizinischen Zeitschriften veröffentlicht; sie sind in den ersten Kapiteln seines Buches »Perfect Sight Without Glasses« zusammengefaßt.

Darüber zu entscheiden, ob Dr. Bates mit der Ablehnung der Helmholtzschen Akkommodationstheorie recht hatte oder nicht, fehlt mir jede Kompetenz. Aber nachdem ich die Beweisführung gelesen habe, vermute ich, daß wohl beide, äußere Augenmuskeln und Linse, bei der Akkommodation eine Rolle spielen.

Diese Vermutung mag richtig sein oder nicht. Das ist mir nicht allzu wichtig. Mir geht es nicht um den anatomischen Akkommodationsmechanismus, sondern um die Kunst des Sehens – und die Kunst des Sehens steht oder fällt nicht mit irgendeiner physiologischen Hypothese. Die Schulmedizin hat angenommen, Dr. Bates’ Akkommodationstheorie sei falsch, und daraus gefolgert, auch seine Augenschulung müsse falsch sein. Dies ist eine völlig ungerechtfertigte Schlußfolgerung, die auf der Unfähigkeit beruht, das Wesen einer Kunst bzw. psychophysischen Fertigkeit zu verstehen.[1]

Das Wesen aller Kunstfertigkeit

Jede psychophysische Kunstfertigkeit, einschließlich der Kunst des Sehens, hat ihre eigenen Gesetze. Diese Gesetze werden auf empirischem Wege von jenen aufgestellt, die sich eine gewisse Fähigkeit zu eigen machen wollen, wie zum Beispiel Klavierspielen, Singen oder Seiltanzen, und die aufgrund von langem Üben die beste und kräftesparendste Methode gefunden haben, ihren psychophysischen Organismus dafür einzusetzen. Solche Leute mögen die wunderlichsten Ansichten über Physiologie haben; das ist unwesentlich, solange ihre psychophysische Tätigkeit in Theorie und Praxis auf ihr konkretes Ziel ausgerichtet ist. Wenn die Entwicklung psychophysischer Fertigkeiten von genauen physiologischen Kenntnissen abhängig wäre, hätte wohl niemand je eine Kunst erlernt. Johann Sebastian Bach zum Beispiel hat wahrscheinlich nie über die Physiologie der Muskeln nachgedacht; falls er es je getan haben sollte, dann ziemlich sicher in falschen Begriffen. Dies hinderte ihn aber nicht, seine Muskeln beim Orgelspiel mit unvergleichlicher Geschicklichkeit einzusetzen. Ich wiederhole: Jede Kunstfertigkeit gehorcht allein ihren eigenen Gesetzen; es sind die Gesetze des erfolgreichen psychophysischen Funktionierens, angewendet auf jede Art von Kunstausübung.

Die Kunst des Sehens unterscheidet sich nicht von anderen psychophysischen Grundfertigkeiten wie Sprechen, Gehen oder Benützen der Hände. Diese elementaren Fertigkeiten werden normalerweise im Säuglings- und Kleinkindalter durch weitgehend unbewußte Selbsterziehung erworben. Die Entwicklung adäquater Sehgewohnheiten benötigt anscheinend mehrere Jahre. Einmal gelernt, wird der richtige mentale und physische Gebrauch der Sehorgane automatisch  – genauso wie Kehlkopf, Zunge und Gaumen beim Sprechen und die Beine beim Gehen automatisch funktionieren. Während aber der automatisch richtige Vorgang beim Sprechen oder Gehen nur durch einen sehr starken psychischen oder physischen Schock beeinträchtigt wird, kann der optimale Gebrauch der Sehorgane in Folge relativ geringer Störungen verlorengehen. Korrekte Gebrauchsgewohnheiten werden durch falsche ersetzt; schon leidet das Sehvermögen, und in einigen Fällen werden aufgrund der schlechten Funktion sogar Krankheiten und chronische organische Veränderungen an den Augen entstehen. Gelegentlich bewirkt die Natur eine spontane Heilung, und die ursprünglichen korrekten Sehgewohnheiten kehren bald zurück. Meist muß aber die im Kleinkindalter unbewußt erlernte Kunst bewußt wieder neu erlernt werden. Die Technik für diesen Erziehungsprozeß wurde von Dr. Bates und seinen Schülern erarbeitet.

Grundprinzipien bei der Ausübung jeder Kunst

Woher, so könnte man fragen, wissen wir denn, daß diese Technik richtig ist? »Die Qualität des Puddings zeigt sich beim Essen«, sagen die Engländer. Zum ersten und am überzeugendsten spricht für die Methode, daß sie funktioniert. Überdies läßt uns schon die Art der Übungen eine Wirksamkeit erwarten. Denn die Bates-Methode basiert auf genau den gleichen Prinzipien wie alle anderen Systeme, die je zur Vermittlung psychophysischer Fähigkeiten entwickelt worden sind. Was für eine Kunst auch immer man erlernen will, ob Akrobatik oder Geigenspiel, Meditieren oder Golfspielen, Schauspiel, Gesang, Tanz oder was auch sonst – eines wird jeder gute Lehrer immer wieder betonen: Lerne, Entspannung und Aktivität zu kombinieren; tue das, was du zu tun hast, ohne Anstrengung; arbeite intensiv, aber nie angespannt.