Huxley, Aldous Wiedersehen mit der schonen neuen Welt

PIPER

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Übersetzt aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

ISBN 978-3-492-97667-1

Mai 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Mrs. Laura Huxley

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Brave New World Revisited«, Chatto & Windus, London 1959

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1960, 1987

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo, Buchloe

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VORWORT

Des Witzes Seele kann zur leibhaftigen Unwahrheit werden. So elegant und einprägsam Kürze auch sein mag, kann sie naturgemäß nie allen Gegebenheiten eines vielfältigen Sachverhalts gerecht werden. Einen solchen vermag man nur im Weglassen und Vereinfachen kurz zu fassen. Weglassungen und Vereinfachungen helfen uns, zu verstehen – aber in vielen Fällen das Falsche; denn was wir erfassen, sind vielleicht nur die säuberlich formulierten Vorstellungen des Vereinfachers, nicht die ganze, viel verzweigte Wirklichkeit, der diese Vorstellungen so willkürlich entnommen sind.

Doch das Leben ist kurz und des Lernens kein Ende: Niemand hat Zeit für alles. In der Praxis sind wir gewöhnlich gezwungen, zwischen einer ungebührlich kurzen oder dem Verzicht auf jegliche Darlegung zu wählen. Die Verkürzung ist also ein notwendiges Übel, und Aufgabe des »Kürzenden« ist es, so gut er kann, mit einer Arbeit fertig zu werden, welche, wenn auch an sich schlecht, doch besser ist als nichts. Er muss lernen, zu vereinfachen, ohne zu verfälschen. Er muss lernen, sich auf das Wesentliche eines Sachverhalts zu konzentrieren, ohne zu viele die Wirklichkeit näher bestimmende Nebenumstände unbeachtet zu lassen. Auf diese Weise gelingt es ihm vielleicht, zwar nicht die volle Wahrheit (denn die volle Wahrheit über irgendeinen wichtigen Gegenstand ist unvereinbar mit Kürze), aber beträchtlich mehr zu sagen als die gefährlichen Viertel- und Halbwahrheiten, welche immer die gängige Münze des Denkens waren.

Das Thema der Freiheit und ihrer Feinde ist unerschöpflich, und was ich hier geschrieben habe, ist sicherlich zu kurz, um ihm gerecht zu werden, aber ich habe wenigstens viele Seiten des Problems berührt. Jede dieser Seiten ist in der Darlegung vielleicht ein wenig zu sehr vereinfacht worden; diese aufeinanderfolgenden übermäßigen Vereinfachungen summieren sich jedoch zu einem Bild, welches, wie ich hoffe, eine Andeutung des Ausmaßes und der Vielfältigkeit der Sache selbst vermittelt.

Nicht berücksichtigt in diesem Bild (nicht weil sie unwichtig wären, sondern bloß aus Bequemlichkeit und weil ich sie bei früheren Gelegenheiten erörterte) sind die mechanischen und militärischen Feinde der Freiheit – die Waffen und Werkzeuge, welche die Macht der Weltbeherrscher über ihre Untertanen so außerordentlich verstärkt haben, und die immer ruinöseren kostspieligen Vorbereitungen für immer sinnlosere und selbstmörderischere Kriege. Beim Lesen der folgenden Kapitel sollte man sich als Hintergrund den ungarischen Aufstand und seine Niederschlagung denken, die Wasserstoffbomben, die Kosten dessen, was jede Nation »Verteidigung« nennt, und jene endlosen Kolonnen uniformierter junger Männer, weißer, schwarzer, brauner und gelber Hautfarbe, die gehorsam dem gemeinsamen Massengrab entgegenmarschieren.

ÜBERVÖLKERUNG

Im Jahre 1931, als ich Schöne neue Welt schrieb, war ich überzeugt, dass wir noch viel Zeit hätten. Die völlig organisierte Gesellschaft, das wissenschaftliche Kastensystem, die Abschaffung des freien Willens mittels methodischen Konditionierens, die durch regelmäßige Verabreichung pharmakologisch hervorgerufener Glückseligkeit annehmbar gemachte Versklavung, die in nächtlichen Schlafunterrichtskursen eingetrichterten Glaubensartikel – das alles würde wohl einmal kommen, aber nicht zu meiner Lebenszeit, nicht einmal zu der meiner Enkel. Ich weiß das genaue Datum der in Schöne neue Welt erzählten Ereignisse nicht mehr; aber sie spielten sich irgendwann im 6. oder 7. Jahrhundert n. F. (nach Ford) ab. Wir, die wir im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts n. Chr. lebten, waren zugegebenermaßen die Bewohner einer recht grausigen Welt; aber der Albtraum jener Jahre der großen Wirtschaftskrise war grundverschieden von dem in Schöne neue Welt beschriebenen Albtraum der Zukunft. Der unsere war ein Albtraum des Mangels an Ordnung; dieser, im 7. Jahrhundert n. F., einer des Übermaßes daran. Beim Übergang von dem einen Extrem zum anderen ergäbe sich eine lange Zwischenzeit, so stellte ich mir vor, während welcher das von Glück begünstigte Drittel der Menschheit das Beste aus beiden Welten machen würde – der unordentlichen Welt des Liberalismus und der viel zu ordentlichen »schönen neuen Welt«, in welcher völlig reibungsloses Funktionieren keinen Raum für Freiheit oder persönlichen Unternehmungsgeist ließe.

Siebenundzwanzig Jahre danach, in diesem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts n. Chr. und lange vor dem Ende des 1. Jahrhunderts n. F., denke ich beträchtlich weniger optimistisch denn damals, als ich Schöne neue Welt schrieb. Die Prophezeiungen von 1931 werden viel früher wahr, als ich dachte. Die selige Zeit zwischen zu wenig Ordnung und dem Albtraum aus zu viel Ordnung hat nicht begonnen und scheint nicht beginnen zu wollen. Zwar erfreuen sich die Menschen im Westen vereinzelt noch immer eines großen Maßes an Freiheit. Aber auch in jenen Ländern, die seit jeher demokratisch regiert werden, scheint diese Freiheit und sogar das Verlangen danach im Schwinden zu sein. In der übrigen Welt ist die Freiheit des Individuums schon verschwunden oder ganz offensichtlich unmittelbar im Verschwinden begriffen. Der Albtraum totaler Organisation, den ich ins 7. Jahrhundert n. F. verlegt hatte, ist aus der ungefährlich fernen Zukunft herausgetreten und erwartet uns nun unmittelbar vor unserer Tür.

George Orwells 1984 war die vergrößerte Projektion einer Gegenwart, welche den Stalinismus beinhaltete, und einer unmittelbaren Vergangenheit, welche das Emporkommen des Nazitums miterlebt hatte, in die Zukunft. Schöne neue Welt hingegen wurde geschrieben, bevor Hitler an die Macht gelangt und als der russische Tyrann noch nicht zu richtiger Entfaltung gekommen war. Systematischer Terror war 1931 noch nicht die beängstigende zeitgenössische Realität, zu der er 1948 wurde, und die künftige Diktatur meiner imaginären Welt war ein gut Teil weniger brutal als die von Orwell so brillant porträtierte. Unter den Verhältnissen von 1948 schien 1984 auf schreckliche Weise stimmig zu sein. Aber Tyrannen sind letztlich doch sterblich, und Umstände ändern sich. Die jüngsten Entwicklungen in Russland und die jüngsten Fortschritte in Wissenschaft und Technologie haben dem Buch Orwells einiges von seiner gruseligen Wirklichkeitsnähe genommen. Ein Atomkrieg wird selbstverständlich jedermanns Voraussagen Lügen strafen. Aber nehmen wir für den Augenblick an, dass die Großmächte davon Abstand nehmen, uns zu vernichten, so können wir sagen, dass es nun so aussieht, als wären die Aussichten für eine »Schöne neue Welt« günstiger als für ein »1984«.

Im Licht dessen, was wir in jüngster Zeit über das Verhalten der Tiere im Allgemeinen und der Menschen im Besonderen gelernt haben, hat sich gezeigt, dass Bestrafung unerwünschten Verhaltens auf die Dauer eine weniger wirksame Kontrolle zeitigt als Belohnung (und dadurch Förderung) erwünschten Verhaltens und dass ein Terrorregime im Großen und Ganzen weniger gut funktioniert als ein Regime durch gewaltlose Manipulation der Umwelt und der Gedanken und Gefühle einzelner Männer, Frauen und Kinder. Bestrafung macht unerwünschtem Verhalten zeitweilig ein Ende, vermindert aber nicht auf Dauer die Neigung des Opfers zu solchem Verhalten. Überdies können die psycho-physischen Nebenwirkungen der Bestrafung ebenso unerwünscht sein wie das Verhalten, für das ein Mensch bestraft worden ist. Die Psychotherapie ist großenteils mit den lähmenden oder antisozialen Folgen früherer Bestrafungen beschäftigt.

Die in 1984 beschriebene menschliche Gesellschaft ist eine fast ausschließlich durch Bestrafung und Furcht vor Bestrafung beherrschte Gesellschaft. In der imaginären Welt meiner eigenen Fabel ist Bestrafung nicht sehr häufig und gewöhnlich geringfügig. Die von der Regierung ausgeübte fast völlige Kontrolle wird durch systematisches Verstärken erwünschten Verhaltens erzielt, durch viele Arten fast gewaltlosen, sowohl physischen als auch psychischen Manipulierens und durch genetische Normung. Embryos in Flaschen und die zentralisierte Kontrolle der Fortpflanzung sind vielleicht nicht unmöglich; aber es scheint unzweifelhaft, dass wir noch lange eine lebend gebärende, willkürlich sich fortpflanzende Spezies bleiben werden. Für praktische Zwecke kann man die genetische Normung ausschließen. Die menschliche Gesellschaft wird weiterhin erst postnatal kontrolliert werden – wie bisher durch Bestrafen, und in zunehmendem Maße durch die wirksameren Mittel des Belohnens und wissenschaftlichen Manipulierens. In Russland hat die altmodische Diktatur Stalins im Stil von 1984 einer zeitgemäßeren Form der Tyrannei zu weichen begonnen. In den oberen Schichten der hierarchischen Sowjetgesellschaft hat die Förderung erwünschten Verhaltens die älteren Methoden der Bestrafung unerwünschten Verhaltens zu ersetzen begonnen. Ingenieure und Wissenschaftler, Lehrer und Verwaltungsbeamte werden für gute Arbeit ansehnlich bezahlt und so mäßig besteuert, dass sie einen beständigen Ansporn fühlen, mehr zu leisten und so auch höher entlohnt zu werden. Auf bestimmten Gebieten steht es ihnen frei, mehr oder weniger zu denken und zu tun, was sie wollen. Bestrafung erwartet sie nur, wenn sie sich über die vorgeschriebenen Grenzen in die Gebiete der Ideologien und der Politik verirren. Eben weil ihnen ein gewisses Maß beruflicher Freiheit gewährt ist, haben russische Lehrer, Wissenschaftler und Techniker so bemerkenswerte Erfolge erzielt. Diejenigen jedoch, die nahe der Basis der Sowjetpyramide leben, erfreuen sich keiner solcher Vorrechte, wie sie der begünstigten oder besonders begabten Minderheit gewährt werden. Ihre Löhne sind mager, und sie zahlen in Form von hohen Preisen einen unverhältnismäßig großen Teil der Steuern. Das Gebiet, auf dem sie tun können, was sie wollen, ist äußerst beschränkt, und sie werden von ihren Beherrschern mehr durch Bestrafung und die Furcht vor Bestrafung gegängelt als durch gewaltloses Manipulieren oder die Verstärkung erwünschten Verhaltens mittels Belohnung. Das Sowjetsystem verbindet Elemente von 1984 mit anderen, welche vorwegnehmen, was in den höheren Kasten der »schönen neuen Welt« vorging.

Mittlerweile scheinen unpersönliche Kräfte, über welche wir fast keine Gewalt haben, uns dem Nachtmahr der Schönen neuen Welt entgegenzutreiben; und dieses unpersönliche Vorantreiben wird bewusst beschleunigt durch Repräsentanten kommerzieller und politischer Organisationen, welche eine Anzahl neuer Techniken dafür erfunden haben, die Gedanken und Gefühle der Massen zum Vorteil einer beliebigen Minderheit zu manipulieren. Die verschiedenen Techniken des Manipulierens werden in einem späteren Kapitel besprochen werden. Für den Augenblick wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen unpersönlichen Kräfte beschränken, die heute die Welt so äußerst ungeeignet für die Demokratie, so ungastlich für persönliche Freiheit machen. Welches sind diese Kräfte? Und warum hat sich der Albtraum, den ich ins 7. Jahrhundert n. F. projizierte, uns so schnell genähert? Die Antwort auf diese Fragen muss dort ansetzen, wo das Leben auch der höchstzivilisierten Gesellschaft seinen Anfang nimmt – im biologischen Bereich.

Am ersten Weihnachtstag zählte die Bevölkerung unseres Planeten ungefähr zweihundertfünfzig Millionen – weniger als die halbe Bevölkerung des heutigen China. Sechzehn Jahrhunderte später, als die Pilgerväter am Plymouth Rock landeten, war die Weltbevölkerung auf ein wenig mehr als fünfhundert Millionen gestiegen. Zur Zeit der Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) hatte die Weltbevölkerung die Zahl von siebenhundert Millionen überschritten. Als ich, 1931, Schöne neue Welt schrieb, stand sie bei knapp unter zwei Milliarden. Heute, kaum dreißig Jahre später, sind es zwei Milliarden und achthundert Millionen. Und morgen – wie viele morgen? Penicillin, DDT und reines Wasser sind wohlfeil zu haben, und ihre Wirkung für die öffentliche Gesundheit steht in keinem Verhältnis zu ihren Kosten. Auch die ärmste Regierung ist reich genug, ihren Untertanen ein beträchtliches Maß der Einschränkung der Sterblichkeitsrate zu bieten. Die Einschränkung der Sterblichkeitsrate ist etwas, was von ein paar Technikern, welche von einer wohlwollenden Regierung bezahlt werden, für ein ganzes Volk gesichert werden kann. Geburtenbeschränkung hängt von der Mitwirkung eines ganzen Volkes ab. Sie muss von zahllosen Individuen geübt werden, von denen sie mehr Intelligenz und Willenskraft fordert, als die meisten der unzähligen Analphabeten unserer Welt aufbringen können, und (so chemische oder mechanische Mittel der Empfängnisverhütung benutzt werden) einen größeren Geldaufwand, als die meisten dieser Millionen sich derzeit leisten können. Überdies gibt es keinerlei religiöse Überlieferung, die uneingeschränktes Sterben fordern würde, wogegen religiöse und soziale Überlieferungen zugunsten unbeschränkten Gebärens weit verbreitet sind. Aus all diesen Gründen lässt sich die Einschränkung von Sterblichkeitsraten sehr leicht erzielen, Geburtenbeschränkung aber nur mit großen Schwierigkeiten. Die Sterblichkeitszahlen sind daher in den letzten Jahren mit erstaunlicher Plötzlichkeit gesunken, die Geburtenzahlen aber sind entweder auf ihrem alten Stand geblieben oder sind, wenn sie gesunken sind, nur geringfügig und sehr langsam gesunken. Als Folge dessen steigt die Zahl der Menschen schneller an als zu irgendeiner Zeit in der Geschichte der Spezies.

Hinzu kommt, dass auch die jährlichen Wachstumsraten zunehmen. Sie nehmen regelmäßig zu nach den Regeln der Zinseszinsrechnung; und sie nehmen auch unregelmäßig zu mit jeder neuen Anwendung der Grundsätze öffentlicher Hygiene durch einen technologisch rückständigen Staat. Gegenwärtig beläuft sich die jährliche Zunahme der Weltbevölkerung auf ungefähr dreiundvierzig Millionen. Das bedeutet, dass die Menschheit sich alle vier Jahre um die Zahl der gegenwärtigen Bevölkerung der USA vermehrt und alle achteinhalb Jahre um die Zahl der gegenwärtigen Bevölkerung Indiens. Bei der zwischen der Geburt Christi und dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges durchschnittlichen jährlichen Zunahme dauerte es sechzehn Jahrhunderte, bis die Erdbevölkerung sich verdoppelte. Bei der gegenwärtigen Zunahme wird sie sich in weniger als einem halben Jahrhundert verdoppeln. Und diese fantastisch schnelle Duplikation unserer Zahl wird auf einem Planeten stattfinden, dessen begehrenswerteste und produktivste Gebiete schon dicht bevölkert sind, dessen Boden erodiert wird durch die verzweifelten Bemühungen schlechter Landwirte, mehr Lebensmittel zu erzeugen, und dessen leicht greifbares Kapital an Bodenschätzen mit der Bedenkenlosigkeit eines betrunkenen Seemanns vergeudet wird, welcher seine gesparte Heuer verpraßt.

In der »schönen neuen Welt« meiner Fabel war das Problem des Verhältnisses von Bevölkerungszahl zu Bodenschätzen wirksam gelöst worden. Eine Optimalzahl für die Weltbevölkerung war errechnet worden, und von Generation zu Generation wurde diese Zahl eingehalten, die sich (wenn ich mich recht erinnere) auf ein wenig unter zwei Milliarden belief. In der wirklichen Welt von heute ist das Bevölkerungsproblem nicht gelöst worden. Im Gegenteil, es wird mit jedem Jahr ernster und drohender. Und es ist dieser bedrohliche biologische Hintergrund, vor dem sich alle politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und psychologischen Dramen unserer Zeit abspielen. Je weiter das 20. Jahrhundert voranschreitet, je mehr neue Milliarden zu den schon vorhandenen hinzukommen (bis meine Enkelin fünfzig sein wird, werden es mehr als fünfeinhalb Milliarden sein), wird dieser biologische Hintergrund immer eklatanter und beängstigender in die Mitte und den Vordergrund der Geschichtsbühne rücken. Das Problem des Verhältnisses der sich schnell vergrößernden Bevölkerungsdichte zu den Rohstoffreserven, zu gesellschaftlicher Stabilität und zum Wohlbefinden des Individuums – dies ist nun das zentrale Problem der Menschheit; und es wird ganz gewiss für ein weiteres Jahrhundert und vielleicht für mehrere Jahrhunderte das zentrale Problem bleiben. Ein neues Zeitalter hat angeblich am 4. Oktober 1957 begonnen. Tatsächlich aber ist in diesem Zusammenhang unser ganzes triumphierendes postsputnikianisches Gerede belanglos, ja sinnlos. Soweit die Massen der Menschheit betroffen sind, wird die Zukunft nicht das Weltraumzeitalter sein, sondern das Zeitalter der Übervölkerung. Wir können die Worte des alten Liedchens parodieren und fragen:

Wird den Weltraum zu durchschwärmen

Euch den Suppenkessel wärmen

Und den Bratspieß drehn, drehn, drehn?

Die Antwort ist selbstverständlich ein Nein. Eine Niederlassung auf dem Mond zu gründen, mag vielleicht von militärischem Vorteil für diejenige Nation sein, die sich dort niederläßt, aber sie wird nicht das Geringste dazu beitragen, das Leben auf der Erde während der fünfzig Jahre, welche die gegenwärtige Bevölkerung zu ihrer Verdoppelung brauchen wird, für die unterernährten und sich stetig vermehrenden Milliarden erträglicher zu machen. Und selbst wenn irgendwann in der Zukunft die Auswanderung auf den Mars möglich sein sollte, auch wenn irgendeine beträchtliche Zahl von Menschen verzweifelt genug wäre, sich ein neues Leben unter Bedingungen zu erwählen, welche denen auf einem doppelt so hohen Berg wie dem Everest vergleichbar sind – welchen Unterschied würde das machen? Im Lauf der letzten vier Jahrhunderte sind viele Menschen aus der Alten in die Neue Welt ausgewandert. Aber weder ihr Wegzug noch die vermehrte Erzeugung und Förderung von Lebensmitteln und Rohstoffen hat die Probleme der Alten Welt lösen können. Ebenso wenig wird die Verschiffung einiger überzähliger Menschen auf den Mars (mit Unkosten von mehreren Millionen Dollar je Kopf für Beförderung und Niederlassung) etwas dazu beitragen, das Problem des wachsenden Bevölkerungsdrucks auf unserem Planeten zu lösen. Ungelöst aber wird dieses Problem all unsere anderen Probleme unlösbar machen. Schlimmer noch, es wird Zustände schaffen, unter denen die Freiheit des Individuums und die sozialen Übereinkünfte der demokratischen Lebensweise unmöglich, ja fast undenkbar sein werden.

Nicht alle Diktaturen entstehen auf dieselbe Weise. Viele Straßen führen zur »schönen neuen Welt«; aber die vielleicht geradeste und breiteste von ihnen ist die Straße, die wir heute gehen, die Straße, die über gigantische Zahlen und beschleunigtes Wachstum führt. Wir wollen kurz die Gründe dieser engen Wechselbeziehung zwischen zu vielen und sich zu rasch vermehrenden Menschen und dem Aufkommen autoritärer Philosophien und totalitärer Regierungssysteme betrachten.

Je stärker der Druck großer und zunehmender Bevölkerungen auf die verfügbaren Rohstoffe und Lebensmittel ist, desto unsicherer ist die wirtschaftliche Lage der diese harte Prüfung erduldenden Gesellschaft. Das trifft besonders auf diejenigen unterentwickelten Gebiete zu, wo ein plötzliches Sinken der Sterblichkeitsraten dank DDT, Penicillin und reinem Wasser nicht von einem entsprechenden Sinken der Geburtenzahlen begleitet ist. In manchen Teilen Asiens und im größten Teil Mittel- und Südamerikas wächst die Bevölkerung so schnell, dass sie sich in wenig mehr als zwanzig Jahren verdoppeln wird. Wenn die Erzeugung von Nahrungsmitteln und Verbrauchsgütern, wenn Häuser, Schulen und Lehrer schneller vermehrt werden könnten, als die Zahl der Menschen sich vermehrt, wäre es möglich, das elende Los der in diesen unterentwickelten und übervölkerten Ländern Lebenden zu verbessern. Leider aber fehlt es diesen Ländern nicht nur an landwirtschaftlichen Maschinen und an Industrieanlagen, um diese herzustellen, sondern auch an dem nötigen Kapital zur Errichtung solcher Industrieanlagen. Kapital ist das, was übrig bleibt, nachdem die primären Bedürfnisse eines Volkes befriedigt worden sind. Aber die primären Bedürfnisse der meisten Völker in unterentwickelten Ländern werden nie wirklich befriedigt. Am Ende eines jeden Jahres bleibt fast nichts übrig, und daher ist fast kein Kapital verfügbar, um industrielle und landwirtschaftliche Betriebe zu schaffen, durch welche die Bedürfnisse des Volkes befriedigt werden könnten. Überdies herrscht in allen diesen unterentwickelten Ländern ein großer Mangel an geschulten Arbeitskräften, ohne welche eine moderne Industrie oder moderne Landwirtschaft nicht betrieben werden kann. Die gegenwärtigen Unterrichtsmöglichkeiten sind unzulänglich, ebenso die finanziellen und kulturellen Mittel, um die bestehenden Möglichkeiten so schnell zu verbessern, wie die Lage es erfordert. Unterdessen vermehrt sich die Bevölkerung einiger dieser unterentwickelten Länder jährlich um drei Prozent.

Ihre tragische Lage wird in einem wichtigen, 1957 veröffentlichten Buch The Next Hundred Years der Professoren Harrison Brown, James Bonner und John Weir des California Institute of Technology erörtert. Wie bewältigt die Menschheit das Problem ihrer rasch zunehmenden Zahl? Nicht sehr erfolgreich. »Die Untersuchungsergebnisse erweisen ziemlich eindeutig, dass sich in den meisten unterentwickelten Ländern das Los des Durchschnittsmenschen im letzten halben Jahrhundert beträchtlich verschlechtert hat. Die Menschen werden immer unzulänglicher ernährt. Es kommen weniger verfügbare Güter auf den Einzelnen. Und fast jeder Versuch, die Lage zu verbessern, ist durch den unablässigen Druck fortwährend steigenden Bevölkerungszuwachses zunichte gemacht worden.«

USA