Huxley;Aldous Meistererzählungen

PIPER

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Die vorliegende Auswahl ist den fünf Erzählungsbänden Aldous Huxleys entnommen (alle bei Chatto & Windus, London, erschienen) und wurde chronologisch angeordnet. Aus Limbo (1920): »Glücklich bis ans Ende ihrer Tage« und »Eupompus adelte die Kunst durch die Zahl« Aus Mortal Coils (1922): »Das Lächeln der Gioconda«, »Das Bankett für Tillotson«, »Grüne Tunnel« und »Nonnen beim Mittagessen« Aus Little Mexican (1924): »Der kleine Mexikaner«, »Hubert und Minnie« und »Der junge Archimedes« Aus Two or Three Graces (1926): »Eine gute Fee« Aus Brief Candles (1930): »Die Ruhekur« und »Die Claxtons«

Von Herbert Schlüter wurden folgenden Erzählungen aus dem Englischen übersetzt: »Glücklich bis ans Ende ihrer Tage«, »Eupompus adelte die Kunst durch die Zahl«, »Der kleine Mexikaner«, »Hubert und Minnie«, »Eine gute Fee«, »Die Claxtons«. Alle übrigen Erzählungen wurden von Herberth E. Herlitschka übersetzt.

Der Abdruck von »Das Lächeln der Gioconda« und »Der junge Archimedes« erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.

ISBN 978-3-492-97727-2

Mai 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Mrs. Laura Huxley

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1983, 1998

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo, Buchloe

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Glücklich bis ans Ende ihrer Tage

I

Selbst unter den günstigsten Umständen ist es eine weite Reise von Chicago bis Blaybury in Wiltshire, aber der Krieg hatte zwischen beide Punkte einen Abgrund gelegt. Unter diesen Bedingungen mochte es als ein Akt besonderer Anhänglichkeit und Verehrung gelten, wenn Peter Jacobsen im vierten Jahr des Krieges die weite Reise vom Mittleren Westen aus unternahm, um seinen alten Freund Alfred Petherton aufzusuchen, zumal wenn dieses Vorhaben einen Einzelkampf gegen zwei Großmächte wegen Pass- und Visumsfragen bedeutete, obendrein mit dem Risiko, dass er, wenn diese Fragen geregelt waren, unterwegs elendiglich umkam, ein Opfer des Kriegsterrors.

Es hatte viel Zeit und noch mehr Mühe und Umstände gekostet, aber schließlich langte Jacobsen an seinem Ziel an. Der Abgrund zwischen Chicago und Blaybury war überbrückt. In der Halle des Pethertonschen Hauses spielte sich die Begrüßungsszene unter den düsteren Blicken von sechs oder sieben Familienporträts von unbekannten Meistern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ab.

Einen grauen Schal um die Schultern gelegt – denn er musste sich sogar im Juni vor Zugluft und Verkühlung hüten –, schüttelte der alte Petherton seinem Gast die Hand und hörte vor lauter Herzlichkeit nicht mehr auf, sie zu schütteln.

»Mein lieber Junge«, sagte er einmal übers andere, »es ist eine wahre Freude, Sie wiederzusehen. Mein lieber …«

Jacobsen überließ ihm die schlaffe Hand und wartete geduldig ab.

»Ich kann Ihnen nie genug danken«, fuhr Mr. Petherton fort, »nie genug danken für diese endlosen Mühen, die Sie auf sich genommen haben, um einen hinfälligen alten Mann zu besuchen – denn das ist aus mir geworden, glauben Sie mir.«

»O nein, ich versichere Ihnen …«, sagte Jacobsen mit leisem Tadel. ›Le vieux crétin qui pleurniche‹, sagte er bei sich. Französisch war doch eine wunderbar ausdrucksvolle Sprache.

»Mit meiner Verdauung und meinem Herzen ist es entschieden bergab gegangen, seit wir uns das letzte Mal sahen. Aber ich glaube, davon habe ich Ihnen in meinen Briefen geschrieben.«

»Ja, und es hat mich tief betrübt, es zu hören.«

»Tief betrübt« – was für einen Beigeschmack das Wort doch hatte! Wie wenn man irgendwo einen Tee zu trinken bekam, der an die köstlichsten Mischungen von vor vierzig Jahren erinnerte. Aber es war fraglos le mot juste. Es hatte den richtigen Nekrolog-Klang.

»Ja«, fuhr Mr. Petherton fort, »mit meinem Herzen sieht es schlecht aus. Die Palpitation macht mir zu schaffen. Nicht wahr, Marjorie?« Er suchte die Zustimmung seiner Tochter, die neben ihm stand.

»Die Palpitation ist bei Vater sehr schlecht«, erwiderte sie pflichtbewusst.

Man konnte meinen, sie sprächen über ein kostbares, zärtlich gehegtes und gepflegtes Vermächtnis.

»Und meine Verdauung – dieses Leiden macht alle geistige Tätigkeit so schwierig. Trotzdem – ein bisschen nützliche Arbeit kann ich immer noch leisten. Doch darüber wollen wir später sprechen. Sie müssen sich müde und staubig fühlen nach einer so langen Reise. Ich bringe Sie jetzt in Ihr Zimmer. Marjorie, holst du jemanden, der das Gepäck Mr. Jacobsens trägt?«

»Ich kann es selbst tragen«, sagte Jacobsen und nahm eine kleine Handtasche auf, die an der Tür abgestellt worden war.

»Ist das alles?«, fragte Mr. Petherton.

»Ja, das ist alles.«

Als ein Mann, der sein Leben ganz unter das Gesetz der Vernunft gestellt hatte, lehnte Jacobsen materiellen Besitz ab. Man wurde so leicht der Sklave der Dinge, anstatt ihr Meister zu sein. Er wollte frei sein. Er zügelte deshalb seinen Besitztrieb und beschränkte seine Habe auf das Notwendigste. Er war in Blaybury genauso gut – oder so wenig – zu Hause wie in Peking. Er hätte das alles erklären können, wenn er gewollt hätte. Aber im vorliegenden Fall hielt er es nicht der Mühe wert.

»Dies ist Ihr bescheidenes Zimmer«, sagte Mr. Petherton, indem er die Tür aufriss zu einem allerdings sehr hübschen Gästezimmer, das hell und freundlich war, mit viel Chintz, Blumen und silbernen Leuchtern. »Ein ärmlich Ding, aber Euer eigen.«

Welch höfischer Anstand! Lieber alter Mann! Und gut zitiert! Jacobsen packte seine Reisetasche aus und verteilte ihren Inhalt sauber und ordentlich in den Schubfächern und Regalen des Kleiderschranks.

Es lag schon eine lange Reihe von Jahren zurück, dass Jacobsen im Verlauf seiner Bildungsreise durch Europa nach Oxford gekommen war. Er blieb ein paar Jahre. Oxford gefiel ihm, und seine Einwohner waren für ihn ein nie versagender Quell der Erheiterung. Ein Norweger, in Argentinien geboren, in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland erzogen; ein Mann ohne nationale Zugehörigkeit und ohne Vorurteile, aber ungeheuer reich an Erfahrung, fand er etwas ganz Neues, Frisches und Belustigendes an seinen Mitstudenten mit ihren komischen Public-School-Traditionen und ihrer sagenhaften Unkenntnis der Welt. Er hatte sie still beobachtet, wenn sie ihre Possen und Späße trieben, immer mit dem Gefühl, durch eine Barriere von ihnen getrennt zu sein und ihnen eigentlich nach jedem besonders amüsanten Kunststück etwas schenken zu müssen, ein Stück Kuchen oder eine Handvoll Erdnüsse. Wenn er sich einmal nicht in diesem köstlichen Zoo erging, bereitete er sich auf das Schlussexamen für den Bachelor of Arts vor, und durch Aristoteles war er mit Alfred Petherton in Kontakt gekommen, der ein Fellow und Tutor seines Colleges war.

In der akademischen Welt hat der Name Petherton einen guten Klang. Man findet ihn auf der Titelseite so verdienstvoller, wenn auch nicht ausgesprochen brillanter Bücher wie »Die Vorläufer Platons«, »Drei schottische Metaphysiker«, »Einführung in die Ethik« und »Essays über den Neoidealismus«. Einige seiner Werke sind als Lehrbücher in billigen Ausgaben erschienen.

Eine dieser merkwürdigen, unerklärlichen Freundschaften, die oft die unmöglichsten Menschen miteinander verbindet, war damals zwischen Tutor und Schüler entstanden, und sie hatte bis jetzt ungebrochen mehr als zwanzig Jahre angedauert. Petherton empfand eine väterliche Zuneigung zu dem jüngeren Mann, der sich so etwas wie Vaterstolz hinzugesellte, da Jacobsen jetzt einen Ruf in der ganzen Welt hatte – und er, Petherton, sich für seinen geistigen Vater hielt. Und jetzt war Jacobsen mitten im Krieg fünf- bis sechstausend Kilometer durch die Welt gereist, nur um den Alten zu besuchen. Petherton war tief gerührt.

»Haben Sie auf der Überfahrt auch U-Boote gesehen?«, fragte Marjorie, als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück mit Jacobsen im Garten spazieren ging.

»Ich habe keins bemerkt, allerdings bin ich in diesen Dingen ein schlechter Beobachter.«

Nach einer Pause nahm Marjorie das Gespräch wieder auf. »Ich stelle mir vor, dass in Amerika jetzt viel für den Krieg getan wird.«

Jacobsen teilte ihre Meinung. Im Geiste sah er vor sich Gruppen und Ansammlungen von Rednern mit Megafon, von patriotischen Leuchtschriften und von Rot-Kreuz-Sammlern, die mit ihrer organisierten Straßenräuberei alle Wege unsicher machten. Aber er war viel zu faul, ihr das alles zu schildern, außerdem würde sie den Witz des Ganzen nicht begreifen.

»Auch ich würde gern im Kriegseinsatz tätig sein«, erklärte Marjorie, »aber ich muss mich um Vater kümmern, und dann ist der Haushalt zu führen, sodass ich praktisch keine Zeit übrig habe.«

Jacobsen war überzeugt, es hier mit einer fix und fertigen Formel Marjories allen Fremden gegenüber zu tun zu haben. Offenbar war sie bemüht, den Leuten ein richtiges Bild von sich zu geben. Ihre Bemerkung über die Führung des Haushalts rief Jacobsen die verstorbene Mrs. Petherton, Marjories Mutter, ins Gedächtnis. Sie war eine ansehnliche Frau gewesen, auf eine etwas peinliche Weise aufgekratzt und von dem glühenden Wunsch beseelt, in der akademischen Gesellschaft von Oxford zu glänzen. Man erfuhr prompt von ihr, dass sie mit Bischöfen und Familien des Landadels verwandt war. Sie war ein Snob, und sie machte Jagd auf kirchliche Würdenträger. Er war froh, dass sie nicht mehr lebte.

»Wird es nicht schlimm werden, wenn es einmal keine Kriegsarbeit mehr gibt?«, fragte er. »Die Leute werden nichts zu tun und an nichts zu denken haben, wenn es wieder Frieden ist.«

»Mich würde es freuen. Dann wird es wieder leichter sein, einen Haushalt zu führen.«

»Richtig. Es hat alles auch seine tröstliche Seite.«

Marjorie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Sie hatte es nicht gern, wenn man sich über sie lustig machte. Was für ein fad aussehender kleiner Mann er war! Klein, untersetzt, mit pomadisiertem braunen Schnurrbart und einer Stirn, die dank beginnender Kahlheit unendlich hoch erschien. Er sah aus wie ein Mann hinter dem Kassenschalter einer Bank. (»Geben Sie es mir bitte in Ein-Pfund-Noten …«) Er hatte Säcke unter den Augen und eine Art Doppelkinn, und aus dem Ausdruck seines Gesichts konnte man nie erraten, was seine Gedanken waren. Ein Glück, dass sie größer war als er und sie deshalb auf ihn herabsehen konnte.

Den grauen Schal um die Schultern gelegt, trat Mr. Petherton aus dem Haus, die ausgebreitete Times knisternd in seinen Händen.

»Good morrow!«, rief er ihnen zu. Auf seinen Gruß von shakespearescher Markigkeit erwiderte Marjorie mit ihrem eisigsten neuzeitlichen »Morning!«. Ihr Vater sagte immer »Good morrow« statt »Good morning«, und das ärgerte seine Tochter mit unfehlbarer Regelmäßigkeit jeden Tag ihres Lebens.

»Heute steht in der Zeitung ein höchst interessanter Bericht eines jungen Flugzeugführers über einen Luftkampf«, sagte Mr. Petherton, und als sie dann zusammen auf dem Kiesweg auf und ab gingen, las er den anderthalb Spalten langen Artikel vor.

Marjorie gab sich keine Mühe, ihre Langeweile zu verbergen, sondern reckte sich den Hals aus, um etwas auf der anderen Seite des Blattes zu lesen.

»Sehr interessant«, bemerkte Jacobsen, als der Bericht zu Ende war. Mr. Petherton hatte indessen die Zeitung umgeblättert und studierte jetzt die Hof- und Gesellschaftsnachrichten.

»Wie ich sehe, heiratet da eine gewisse Beryl Camberley-Belcher. Weißt du vielleicht, Marjorie, ob sie mit den Howard Camberley-Belchers verwandt ist?«

»Ich habe keine Ahnung, wer die Howard Camberley-Belchers sind«, erwiderte Marjorie nicht ohne Schärfe.

»Oh, ich glaubte, du wüsstest es. Lass mich einmal überlegen. Howard Camberley-Belcher war mit mir im College. Er hatte einen Bruder James – oder hieß er William? – und eine Schwester, die einen Rider heiratete oder jedenfalls einen Verwandten von den Riders. Denn ich erinnere mich, dass die Linien der Camberley-Belchers und der Riders sich irgendwann einmal kreuzten. Aber ich glaube wirklich, dass mich mein Gedächtnis für Namen allmählich verlässt.«

Marjorie ging ins Haus, um mit der Köchin den Tagesplan zu besprechen. Darauf zog sie sich in ihr Zimmer zurück und schloss ein ganz privates Fach ihres Sekretärs auf. Sie musste noch heute Morgen an Guy schreiben. Marjorie kannte Guy Lambourne seit Jahr und Tag, fast so lange, wie ihr Gedächtnis überhaupt reichte. Zwischen den Lambournes und den Pethertons bestand eine alte Familienfreundschaft. Ja, entfernt waren sie sogar verwandt, ihre Linien hatten sich irgendwann einmal gekreuzt, wie Mr. Petherton es ausdrücken würde. Irgendwann – das hieß vor ein paar Generationen. Marjorie war zwei Jahre jünger als Guy. Beide waren einzige Kinder, und ihre Lebensumstände hatten sie oft zusammengeführt. Dann starb Guys Vater und bald darauf auch seine Mutter. So kam Guy im Alter von siebzehn Jahren ins Haus der Pethertons, da der Alte als sein Vormund bestellt war. Und jetzt waren sie verlobt; sie waren es mehr oder weniger seit dem ersten Kriegsjahr.

Marjorie griff zu Feder, Tinte und Papier. »Lieber Guy«, begann sie – »Wir sind nicht sentimental«, hatte sie einmal mit einer Mischung von Verachtung und geheimem Neid einer Freundin gegenüber bemerkt, die ihr anvertraut hatte, dass sie und ihr Verlobter nie einen Brief mit einer weniger herzlichen Anrede als »Mein Liebster« oder »Mein Schatz« begannen. – »Ich warte sehnlichst auf einen Brief von Dir …« Sie betete nun die übliche Litanei dieser Sehnsucht herunter. »Gestern war Vaters Geburtstag; er ist fünfundsechzig geworden. Der Gedanke ist mir unerträglich, dass Du und ich einmal auch so alt sein sollen. Tante Ellen hat einen Stiltonkäse geschickt – ein nützliches Geschenk in diesen Zeiten. Wie langweilig der Haushalt ist! Weil ich an solche Dinge wie Käse denken muss, wird mein Hirn bald selbst ein Käse – ein Schweizer: wo kein Käse ist, sind lauter Löcher, ein Vakuum …«

In Wirklichkeit hatte sie gar nicht so viel gegen die Arbeit im Haushalt. Sie hielt sie für selbstverständlich und tat sie, weil sie getan werden musste. Guy dagegen nahm nichts für selbstverständlich, und so hatte sie ihre demonstrativen Bemerkungen ihm zuliebe gemacht.

»Ich habe, Deiner Anregung folgend, die Briefe von Keats gelesen, und ich finde sie einfach wundervoll …«

Am Ende einer Seite, die von ihrem Entzücken über die Briefe Keats’ handelte, hielt sie inne und nagte an ihrem Federhalter. Was kam jetzt? Sie fand es eigentlich lächerlich, sich Briefe über die Bücher zu schreiben, die man gerade gelesen hatte. Aber es gab nichts anderes zu berichten, es passierte ja nie etwas. Was für Ereignisse hatte es in ihrem Leben schon gegeben? Den Tod ihrer Mutter, als sie, Marjorie, sechzehn Jahre alt war. Dann das aufregende Erlebnis, dass Guy zu ihnen ins Haus kam. Schließlich den Krieg, aber das hatte für sie keine große Bedeutung gehabt. Dann, dass Guy sich in sie verliebte und dass sie sich verlobten. Das war wirklich alles. Sie hätte über ihre Gefühle gern so genau und so kompliziert geschrieben, wie es die Menschen in Romanen taten. Aber wenn sie es recht bedachte, hatte sie gar keine Gefühle zu beschreiben.

Sie sah noch einmal in Guys letzten Brief aus Frankreich. »Manchmal«, las sie da, »habe ich ein quälendes physisches Verlangen nach Dir. Dann kann ich an nichts anderes denken als an Deine Schönheit, an Deinen jungen starken Körper. Ich hasse mich dafür und kämpfe mit aller Kraft dagegen an. Verzeihst Du mir?« Sie fand es ziemlich aufregend, dass sie solche Gefühle in ihm erweckte. Er war sonst immer so kühl und reserviert, so sehr jeder Sentimentalität abhold – den Küssen und Zärtlichkeiten, die ihr selbst insgeheim vielleicht willkommen gewesen wären. Aber hatte er nicht recht gehabt, wenn er sagte: »Wir müssen uns wie vernunftbegabte Wesen lieben, mit dem Geist und der Seele, nicht mit unseren Händen und Lippen.« Trotzdem …

Sie tauchte die Feder ins Tintenfass und schrieb: »Ich kenne die Gefühle, von denen Du in Deinem Brief schreibst. Manchmal sehne ich mich nach Dir in derselben Weise. Neulich nachts träumte ich, dass ich Dich in meinen Armen hielt, und wachte auf mit dem Kissen im Arm.« Sie las das Geschriebene noch einmal durch. Es war gar zu scheußlich und gewöhnlich! Sie musste es wieder ausradieren. Doch nein, sie würde es trotz allem so stehen lassen, um zu sehen, wie er darüber dachte. Sie beendete rasch den Brief, klebte ihn zu und frankierte ihn. Dann läutete sie nach dem Mädchen, das ihn sogleich zur Post bringen sollte. Als das Mädchen fort war, schloss sie mit einem Ruck den Sekretär. So – der Brief war nun auf dem Wege, unwiderruflich.

Sie nahm ein dickes Buch vom Tisch und begann darin zu lesen. Es war der erste Band von »Niedergang und Verfall des Römischen Reiches«. Guy hatte gesagt, sie müsse Gibbon lesen; ihre Erziehung wäre nicht vollendet, ehe sie Gibbon gelesen hätte. Sie war also gestern in die Bibliothek ihres Vaters gegangen, um sich das Buch zu holen.

»Gibbon, selbstverständlich, mein Kind«, hatte Mr. Petherton sie empfangen. »Welch köstliches Vergnügen, wieder einmal einen Blick in diese großen klassischen Werke zu werfen. Man findet immer wieder etwas Neues in ihnen.«

Marjorie gab ihm zu verstehen, sie habe noch nie etwas von Gibbon gelesen, und sie schien auf ihre Unwissenheit noch stolz zu sein.

Mr. Petherton reichte ihr den ersten von elf Bänden. »Ein großes Buch«, bemerkte er, »ein unentbehrliches Werk. Es füllt die Lücke zwischen deiner klassischen Geschichte und dem, was du über das Mittelalter weißt.«

»Deine‹ klassische Geschichte«, wiederholte Marjorie bei sich, »deine – dass ich nicht lache!« Ihr Vater hatte eine erbitternde Art, vorauszusetzen, dass sie alles wusste und dass die klassische Geschichte die »ihre« so gut wie die »seine« war. Kürzlich hatte er sie beim Mittagessen gefragt: »Erinnerst du dich noch, mein liebes Kind, ob es Pomponazzi war, der die persönliche Unsterblichkeit der Seele leugnete, oder ob das dieser komische Bursche Laurentius Valla war? Es ist mir im Augenblick entfallen.« Marjorie hatte bei dieser Frage ihre Geduld verloren – sehr zur Verblüffung ihres arglosen Vaters.

Sie hatte sich also mit Eifer an die Lektüre Gibbons gemacht. Ihr Lesezeichen zeigte an, dass sie gestern hundertdreiundzwanzig Seiten geschafft hatte. Marjorie begann zu lesen. Aber nach zwei Seiten hörte sie wieder auf. Sie sah nach, wie viel Seiten ihr noch zu lesen blieben – und dies war allein der erste Band. Sie kam sich wie eine Wespe vor, die sich auf einem Kürbis niederließ, um ihn zu verzehren. Die Masse Gibbons hatte sich nach ihrem ersten Bissen noch nicht merklich verringert. Das Buch war zu lang. Sie klappte es zu und machte einen Spaziergang. Als sie bei den Whites vorbeikam, sah sie ihre Freundin Beatrice White mit ihren beiden kleinen Kindern auf dem Rasen sitzen. Beatrice rief sie zu sich, und Marjorie ging zu ihr hin.

»Backe, backe Kuchen«, sagte sie. Mit zehn Monaten hatte der kleine John schon die Kunst des Kuchenbackens erlernt. Er klatschte mit seinem Händchen auf die ausgestreckte Hand Marjories, und sein Gesicht, rund, glatt und rosa wie ein riesiger Pfirsich, strahlte vor Vergnügen.

»Ist er nicht ein Schatz!«, rief Marjorie entzückt. »Weißt du, ich bin sicher, dass er seit ich ihn zum letzten Mal sah – das heißt Dienstag –, wieder gewachsen ist.«

»Er hat in der letzten Woche gut dreihundert Gramm zugenommen«, erklärte Beatrice.

»Wunderbar! Und sein Haar kommt jetzt auch ganz prächtig …«

Der nächste Tag war ein Sonntag. Jacobsen erschien zum Frühstück im makellosen schwarzen Anzug. Mehr denn je glich er, wie Marjorie meinte, einem Kassierer. Um ihr Leben gern hätte sie ihm gesagt, er solle sich beeilen, um nicht zum zweiten Mal in dieser Woche den 8.53-Uhr-Zug zu versäumen und seinen Direktor zu erzürnen. Sie selbst war – und das mit voller Absicht – nicht im Sonntagsstaat.

»Wie heißt der Vikar?«, erkundigte sich Jacobsen, während er sich Speck auf den Teller tat.

»Trubshaw. Ich glaube, Luke Trubshaw.«

»Predigt er gut?«

»Nicht, als ich ihn hörte. Aber ich gehe jetzt nicht oft in die Kirche. Also kann ich nicht sagen, wie er jetzt ist.«

»Warum gehen Sie nicht in die Kirche?«, fragte Jacobsen mit einer seidigen Sanftheit im Ton, die die harten Umrisse seiner Fangfrage verhüllen sollte.

Marjorie errötete und war sich dessen peinlich bewusst. Sie war wütend auf Jacobsen. »Weil ich«, erwiderte sie mit Entschiedenheit, »es nicht für nötig halte, meinen religiösen Gefühlen dadurch Ausdruck zu geben, dass ich« – hier zögerte sie einen Augenblick – »eine Reihe bedeutungsloser Gesten zusammen mit einem Haufen anderer Leute vollziehe.«

»Aber früher sind Sie doch gegangen«, sagte Jacobsen.

»Als ich noch ein Kind war und über diese Dinge noch nicht nachgedacht hatte.«

Jacobsen schwieg und verbarg sein Lächeln hinter seiner Kaffeetasse. Man sollte doch eine religiöse Dienstpflicht für Frauen einführen, dachte er – und für die meisten Männer auch. Es war grotesk, wie diese Leute glaubten, es allein zu schaffen, ganz auf sich selbst gestellt – diese Narren, wenn es doch die unbegrenzte Autorität der organisierten Religion gab, um ihnen in ihrer lächerlichen Schwäche beizustehen.

»Geht Lambourne in die Kirche?«, fragte er boshaft, aber mit der Miene vollkommener Naivität und guten Glaubens.

Wieder errötete Marjorie, und wieder fühlte sie den Hass in sich aufsteigen. Schon als sie die »bedeutungslosen Gesten« erwähnt hatte, waren ihr Zweifel gekommen, ob Jacobsen diesen Eindruck als ihr geistiges Eigentum anerkennen würde. Gesten war eines von Guys Worten, so wie Skandalon, authentisch, sinister. Natürlich hatte sie alle ihre heutigen Anschauungen über Religion von Guy übernommen. Sie blickte Jacobsen offen ins Gesicht.

»Ja, ich glaube, dass er ziemlich regelmäßig in die Kirche geht. Aber ich weiß es nicht. Seine Religion hat nichts mit mir zu tun.«

Jacobsen war voller Bewunderung und Entzücken.

Pünktlich zwanzig Minuten vor elf brach er zum Kirchgang auf. Von ihrem Platz im Gartenhaus aus beobachtete sie ihn, wie er den Garten durchquerte, unglaublich lächerlich und fehl am Platz in seinem schwarzen Anzug inmitten der farbig leuchtenden Blumen und des jungen Smaragdgrüns an den Bäumen. Jetzt verbarg ihn die Rosenhecke bis auf seine schwarze Melone, die sie zwischen den obersten Zweigen der Hecke auf- und wieder untertauchen sah.

Sie schrieb in ihrem Brief an Guy »… Was für ein merkwürdiger Mann dieser Mr. Jacobsen ist. Ich nehme an, dass er sehr klug ist, aber ich kriege nicht viel aus ihm heraus. Heute Morgen hatten wir beim Frühstück eine Auseinandersetzung über Religion. Ich habe ihm die richtige Antwort gegeben. Jetzt ist er ganz allein in die Kirche gegangen. Aber der Gedanke, mit ihm zusammen zu gehen, war mir unerträglich. Hoffentlich hat er viel Freude an der Predigt des alten Trubshaw!«

Jacobsen hatte enorm viel Freude an dieser Predigt. Er hatte es sich zur Regel gemacht, in welchem Teil der christlichen Welt er sich auch befand, den Gottesdienst zu besuchen. Er hegte für die Kirche als Institution die höchste Bewunderung. In ihrer Festgegründetheit und Unwandelbarkeit sah er eine der wenigen Hoffnungen für die Menschheit. Außerdem bereitete es ihm großes Vergnügen, wenn er die Kirche als Institution – so erhaben, machtvoll und ewig – mit dem kindischen Schwachsinn ihrer Repräsentanten verglich. Was für ein Spaß, inmitten der versammelten Gemeinde zu sitzen und den ehrlich gemeinten Ergüssen eines Intellekts zu lauschen, der kaum weniger begrenzt war als der eines australischen Ureinwohners! Wie beruhigend, sich selbst als Teil einer Herde zu fühlen, geleitet von einem Hirten – der selbst ein Schaf war! Hinzu kamen sein wissenschaftliches Interesse (er kam als Anthropologe und Psychoanalytiker in die Kirche) und das philosophische Amüsement, wenn er in der Predigt die verkürzten Schlüsse zählte und im Stillen die längst überwundenen Irrtümer der Vergangenheit historisch-chronologisch bestimmte.

Heute hatte die Predigt Mr. Trubshaws ein aktuelles Thema: die Lage in Irland. Sein Evangelium war das der Morning Post, leicht gemildert durch christliches Denken. Es sei unsere Pflicht, sagte er, für die Iren zuerst zu beten, und wenn sich das nicht auf die Rekrutierung auswirkte, nun, dann müssten wir sie zwangsweise einziehen, und zwar mit demselben Eifer, mit dem wir zuvor für sie gebetet hätten.

Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sich Jacobsen auf der Kirchenbank zurück. Als der Kenner, der er war, erkannte er, dass dies die richtige Kost war.

»Nun, wie hat Ihnen unser Vikar gefallen?«, fragte Mr. Petherton beim sonntäglichen Roastbeef zum Lunch.

»Er war fantastisch«, sagte Jacobsen im Ton ernster Begeisterung.

»Eine der besten Predigten, die ich je gehört habe.«

»Was Sie nicht sagen! Da werde ich wohl wieder einmal hingehen und mir eine Predigt von ihm anhören müssen. Ich glaube, es sind zehn Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gehört habe.«

»Er ist einzigartig.«

Marjorie musterte Jacobsen aufmerksam. Er schien es ernst zu meinen. Mehr denn je gab ihr der Mann Rätsel auf.

Die Zeit verging, warme blaue Tage, die wie im Fluge vergangen waren, ohne dass man es recht bemerkte, und kalte graue Tage, die kein Ende nahmen und die nicht zu zählen waren; und über sie sprach man mit einem Gefühl von gerechtem Groll, denn dem Kalender nach war es Sommer. In Frankreich gingen indes die Kämpfe weiter – gewaltige Schlachten, nach den Schlagzeilen der Times zu urteilen, aber letzten Endes glichen sich die täglichen Ausgaben doch sehr. Marjorie las sie pflichtschuldig, nahm aber nicht sehr viel davon auf. Jedenfalls vergaß sie es sehr schnell wieder. Sie konnte mit den Schlachten bei Ypern nicht Schritt halten, und wenn ihr jemand sagte, sie müsste sich einmal die Vindictive-Aufnahmen ansehen, dann lächelte sie unbestimmt und sagte Ja, ohne sich genau erinnern zu können, was damit gemeint war – sie vermutete, ein Schiff.

Guy war in Frankreich, natürlich, aber er war jetzt Offizier im Geheimdienst, sodass sie seinetwegen so gut wie unbesorgt war. Der Krieg, so hörte man es von den Männern der Kirche, gab uns allen wieder das Gefühl für die Grundrealitäten des Lebens. Das mochte wohl wahr sein: Die erzwungene Abwesenheit Guys schmerzte sie, und die Schwierigkeiten mit dem Haushalt vermehrten und vervielfältigten sich ständig.

Mr. Petherton nahm am Krieg ein intelligenteres Interesse als seine Tochter. Er tat sich etwas darauf zugute, den Krieg im größeren Zusammenhang zu sehen und das Ganze von einem höheren historischen Standpunkt aus zu betrachten. Er sprach darüber bei den Mahlzeiten und wurde nicht müde zu betonen, dass die Welt für die Demokratie sicher gemacht werden müsste. Zwischen den Mahlzeiten saß er in seiner Bibliothek und arbeitete an seinem monumentalen Werk, der »Sittengeschichte«. Seinen Tischgesprächen pflegte Marjorie mehr oder weniger aufmerksam, Jacobsen aber mit unfehlbarer, wacher und intelligenter Höflichkeit zuzuhören. Jacobsen selbst machte nur selten eine Bemerkung über den Krieg. Es galt als ausgemacht, dass er darüber die gleichen Anschauungen hatte wie alle rechtdenkenden Menschen. Er arbeitete in der Zeit zwischen den Mahlzeiten in seinem Zimmer, oder er diskutierte mit seinem Gastgeber über die Sitten in der Zeit der italienischen Renaissance. Marjorie konnte Guy schreiben, dass nichts passierte und sie, wenn er ihr nicht fehlte und das schlechte Wetter nicht so sehr das Tennisspielen beeinträchtigte, vollkommen glücklich wäre.

Mitten in diesen häuslichen Frieden traf wie ein heiterer Blitz aus heiterem Himmel die Ankündigung, dass Guy Ende Juli Urlaub bekam. »Liebster Schatz«, schrieb Marjorie, »ich bin ganz aufgeregt bei dem Gedanken, dass Du in so kurzer – ach, so langer Zeit bei mir sein wirst.« Tatsächlich waren ihre Aufregung und ihr Glück so groß, dass sie sich mit ein wenig schlechtem Gewissen klarmachte, wie wenig sie im Grunde an ihn gedacht hatte, solange es keine Aussieht zu geben schien, ihn bald wiederzusehen, ja, wie blass seine Gestalt in seiner Abwesenheit geworden war. In der nächsten Woche erfuhr sie, dass George White es hatte einrichten können, zur gleichen Zeit wie Guy Urlaub zu nehmen, um ihn wiederzusehen. Sie freute sich. George war ein reizender Junge, und Guy hatte ihn sehr gern. Die Whites waren ihre nächsten Nachbarn, und seitdem Guy in Blaybury wohnte, war er viel mit dem jungen George zusammen gewesen .

»Wir werden eine sehr fröhliche Gesellschaft sein«, sagte Mr. Petherton. »Roger wird zur selben Zeit wie Guy zu uns kommen.«

»Onkel Roger hatte ich ganz vergessen«, sagte Marjorie. »Natürlich beginnen ja dann auch seine Ferien.«

Der Reverend Roger war der Bruder Alfred Pethertons und Lehrer an einer unserer ruhmreichsten Public Schools. Marjorie teilte kaum die Meinung ihres Vaters, dass die Anwesenheit ihres Onkels die »Fröhlichkeit« ihrer Gesellschaft wesentlich heben würde. Es war ein Jammer, dass er ausgerechnet zur selben Zeit kommen würde. Aber schließlich haben wir alle unser Päckchen zu tragen.

Mr. Petherton fühlte sich zu Scherzen aufgelegt. »Für den festlichen Anlass müssen wir den edelsten Falerner auf den Tisch bringen, abgefüllt zu der Zeit, als Gladstone noch Konsul war. Wir müssen Kränze winden und Salben bereiten und einen Flötenspieler und ein paar Tänzerinnen engagieren …«

Bis zum Ende der Mahlzeit wurde er nicht müde, Horaz, Catull, die Griechische Anthologie, Petronius und Sidonius Apollinaris zu zitieren. Marjories Kenntnisse in den toten Sprachen waren entschieden begrenzt. Auch war sie mit ihren Gedanken anderswo, und so hörte sie nur undeutlich und wie durch einen Nebel ihren Vater etwas murmeln – sie wusste nicht, ob im Selbstgespräch oder doch in der Hoffnung, irgendjemandem damit eine Antwort zu entlocken:

»Wie ging doch noch dieses Epigramm? Das über die verschiedenen Fischarten und Rosengirlanden – von Meleager – oder war es Poseidippus …?«

II

Guy und Jacobsen ergingen sich im holländischen Garten – ein ungleiches Paar. An Guy hatte der militärische Dienst keine äußeren Spuren hinterlassen. Ohne Uniform sah er immer noch wie ein hoch aufgeschossener, unordentlicher Student aus. Er ging vornübergebeugt, mit hängenden Schultern wie eh und je; sein Haar war noch immer wuschelig, und nach dem unschlüssigen Ausdruck seines Gesichts zu urteilen, hatte er noch nicht gelernt, in Begriffen des Empires zu denken. Seine Khakiuniform sah wie eine Verkleidung aus, ja, wie ein besonders absurdes Maskenkostüm. Jacobsen trottete neben ihm her, klein, untersetzt, sehr glatt und korrekt. Sie sprachen sprunghaft über gleichgültige Dinge. Guy, der nach so vielen Monaten militärischer Disziplin Lust auf ein wenig intellektuelle Betätigung hatte, versuchte, seinen Begleiter in eine philosophische Diskussion zu verstricken. Aber Jacobsen entzog sich konsequent solchen Bemühungen. Er war zu träge, sich ernsthaft zu unterhalten. Er sah nicht den Nutzen, den es für ihn haben konnte, die Meinungen dieses jungen Mannes kennenzulernen, und andererseits hatte er nicht den Wunsch, einen Jünger zu gewinnen. Deshalb zog er es vor, über den Krieg und das Wetter zu sprechen. Es verdross ihn, wenn Menschen in die Domäne des Denkens einbrechen wollten, die kein Recht hatten, anderswo zu leben als auf der vegetativen Ebene der reinen Existenz. Sie sollten sich damit begnügen, zu sein oder zu tun, und nicht den hoffnungslosen Versuch unternehmen zu denken, da doch nur einer in einer Million mit einem Minimum von Nutzen für sich oder einen anderen denken kann.

Mit einem Seitenblick musterte er die düstere, sensible Miene seines Begleiters. Er hätte mit achtzehn Jahren Kaufmann werden sollen – zu diesem Urteil kam Jacobsen. Es war schädlich für ihn, zu denken. Er war nicht stark genug dafür.

Plötzlich drang lautes Gebell in die Ruhe des Gartens. Aufblickend erkannten die beiden George White, wie er mit einem großen rehbraunen Hund, der neben ihm hersprang, über den grünen Rasen des Krocketplatzes lief.

»Morgen!«, rief er ihnen zu. Er war barhaupt und außer Atem. »Ich bin mit Bella herumgelaufen und wollte bei der Gelegenheit einmal schauen, wo ihr steckt.«

»Was für ein prachtvoller Hund!«, begeisterte sich Jacobsen.

»Es ist eine englische Dogge – unser einziger ureingeborener Hund. Ihr Stammbaum geht bis auf Edward den Bekenner zurück.«

Jacobsen begann mit George ein lebhaftes Gespräch über die Vorzüge und Schwächen von Hunden zu führen. Bella beschnüffelte seine Waden, hob dann den Blick zu ihm empor und sah ihn an mit ihren sanften, schwarzen Augen. Sie schien mit ihrer Prüfung zufrieden.

Guy sah ihnen eine Weile zu. Sie waren aber zu sehr in ihr Gespräch über Hunde vertieft, als dass sie auf ihn geachtet hätten. Er machte eine Geste, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, was keinen Aufschub duldete, gab ein paar Brummlaute von sich und wandte sich mit einer Miene höchster Dringlichkeit dem Hause zu. Seine sorgfältig durchgeführte Pantomime entging freilich der Aufmerksamkeit derer, für die sie eigentlich bestimmt war. Guy bemerkte es und fühlte sich nur um so elender, zorniger und eifersüchtiger. Jetzt würden sie glauben, er habe sich davongeschlichen, weil sie nichts von ihm wissen wollten – was den Tatsachen entsprach –, statt anzunehmen, er habe etwas sehr Wichtiges zu tun, was er sie doch hatte glauben lassen wollen.

Etwas wie Zweifel an sich selbst befielen ihn. War sein Intellekt am Ende ohne Bedeutung, waren die kleinen Dinge, die er geschrieben hatte, wertloses Zeug und nicht, wie er gehofft hatte, voll potenzieller Genialität? Jacobsen hatte recht, wenn er die Gesellschaft Georges vorzog. George war physisch vollkommen, ein Prachtkerl. Und welchen Anspruch konnte er, Guy, erheben?

Ich bin zweitrangig, dachte er, physisch, moralisch und geistig zweitrangig. Jacobsen hat völlig recht.

Das Beste, was er für sich erhoffen konnte, war, ein langweiliger Literat mit ganz unaufregenden Neigungen zu werden.

Aber nein, nein, nein! Er ballte die Faust und rief laut, als wolle er seinen Entschluss der ganzen Welt verkünden:

»Ich will es schaffen. Ich will erstrangig sein. Ich will.«

Er geriet in die äußerste Verlegenheit, als hinter einer Wand von Rosenbüschen ein erstaunter Gärtner auftauchte. Laut mit sich selbst zu reden – der Mann musste ihn für wahnsinnig halten!

Er lief über den Rasen, betrat das Haus und eilte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Keine Sekunde war zu verlieren, er musste sofort beginnen. Er wollte etwas schreiben, etwas, das von Dauer sein sollte, fest, hart und leuchtend …

»Der Teufel hol’ sie alle! Ich will es schaffen, ich kann es …«

In seinem Zimmer gab es Schreibmaterial und einen Tisch. Er suchte sich eine Feder aus – mit einer Spezialspitze, mit der er stundenlang, ohne zu ermüden, schreiben konnte – und griff nach einem großen quadratischen Blatt Papier.

Hatch House,
Blaybury,
Wilts

Bahnstation: Cogham, 5 km;
Nobes Monacorum, 8 km.

Wie albern, dass sich die Leute ihr Briefpapier rot bedrucken lassen, wo doch Schwarz oder Blau viel schöner ist! Er übermalte die Buchstaben mit Tinte.

Er hielt den Briefbogen gegen das Licht, man sah das Wasserzeichen: Pimlico Bond. Das war ein hübscher Name für den Helden eines Romans! Pimlico Bond …

Rindfleisch in der Speisekammer
Und Enten auf dem Teich,
Die schnattern, schnattern, schnattern …

Er kaute auf seinem Federhalter. Was ich erreichen will, sagte er sich, ist etwas sehr Hartes, etwas, das ganz außen ist. Ein starkes Gefühl, aber irgendwie muss es gelingen, sich außerhalb zu stellen. Er bewegte Hände, Arme und Schultern, indem er seine Muskeln anspannte, wie um sich selbst physisch jene Härte und Festigkeit des Stils zu demonstrieren, um die er rang.

Dann begann er auf dem weißen Papier zu zeichnen. Eine nackte Frau, einen Arm über den Kopf erhoben, sodass er ihre Brust mit Hilfe jenes wundervollen Beugemuskels, der von der Schulter abgeht, emporhob. Und nicht vergessen, dass die Innenseiten der Oberschenkel leicht nach innen gewölbt sind. Die Füße, von vorn gesehen, sind immer schwierig.

Unmöglich, das Blatt hier herumliegen zu lassen. Was würden die Hausangestellten denken? Er machte aus den Brustwarzen Augen, zog dicke Striche, die Nase, Mund und Kinn andeuten sollten, und schmierte dick Tinte darüber. Jetzt war es ein ganz passables Gesicht geworden, wenn auch ein aufmerksamer Beobachter den ursprünglichen Akt darin entdeckt hätte. Er riss das Blatt in tausend Stücke.

Ein Dröhnen füllte im Crescendo das Haus. Der Gong. Er sah auf seine Uhr. Zeit zum Lunch, und er hatte noch nichts getan. O Gott! …

III

Zeit zum Abendessen, am letzten Abend von Guys Urlaub. Der von keinem Tuch bedeckte Mahagonitisch war wie ein Becken voll braunen, unbewegten Wassers, in dessen Tiefe sich die Blumen und die funkelnden Formen von Glas und Silber undeutlich spiegelten. Mr. Petherton saß am oberen Ende der Tafel, flankiert von seinem Bruder Roger und Jacobsen. Die Jugend, in Gestalt von Marjorie, Guy und George White, hatte sich am anderen Ende versammelt. Man war beim Nachtisch angelangt.

»Dies ist ein vorzüglicher Portwein«, sagte Roger, glatt und glänzend wie ein wohlgenährter schwarzer Schwan unter dem seidenen geistlichen Gewand. Er war stark, untersetzt, um die fünfzig, mit einem roten Hals, der so dick wie der Kopf war. Sein Haar war militärisch kurz geschoren; er wollte damit seinen Schülern ein gutes Beispiel geben, deren einige bedauerliche »ästhetische« Neigungen zeigten und das Haar lang trugen.

»Ich freue mich, dass er dir schmeckt. Ich selbst darf ihn natürlich nicht anrühren. Trink noch ein Glas!« Das Gesicht Alfred Pethertons trug einen melancholisch-magenkranken Ausdruck. Er wünschte jetzt, er hätte nicht so viel von dieser Ente genommen.

»Danke, gern.« Roger nahm die Karaffe mit einem Lächeln der Befriedigung. »Der erschöpfte Schulmeister hat sein zweites Glas verdient. White, Sie sehen ziemlich blass aus, ich glaube, Sie müssen auch noch ein Glas haben.« Roger hatte eine herzhafte, zu Scherzen aufgelegte Art, mit der er seinen Schülern zeigen wollte, dass er nicht einer von dieser schleimigen Art von Pastoren war, kein Schleichender Christus.

Am Ende der Tafel, wo die Jugend saß, war man in einer fesselnden Unterhaltung begriffen. Insgeheim irritiert, dabei gestört zu werden, drehte sich White um und lächelte unsicher Roger an.

»O danke, Sir«, sagte er und schob ihm sein Glas hin, damit er es ihm fülle. Das »Sir« war ihm versehentlich entschlüpft; es war schließlich noch nicht so sehr lange her, dass er ein Schuljunge unter der Herrschaft Rogers gewesen war.

»Man kann von Glück sagen«, fuhr Roger ernsthaft fort, »wenn man heutzutage überhaupt noch an Portwein kommt. Ich bin heilfroh, dass ich vor ein paar Jahren zehn Dutzend Flaschen für meinen Keller von meinem alten College gekauft habe. Ich wüsste sonst nicht, was ich tun sollte. Mein Weinhändler sagt mir, er könnte mir keine einzige Flasche abgeben. Im Gegenteil, er erbot sich, mir ein paar Flaschen abzukaufen, falls ich sie verkaufen wollte. Aber ich hatte nicht die Absicht. Eine Flasche im Keller ist heutzutage zehn Schilling in der Tasche wert. Ich sage immer, dass man Portwein heute braucht, seitdem wir so wenig Fleisch bekommen. Lambourne! Sie sind auch einer unserer tapferen Vaterlandsverteidiger! Sie verdienen auch Ihr zweites Glas.«

»Nein, danke«, sagte Guy und blickte kaum auf. »Ich habe genug.« Er sprach weiter auf Marjorie ein – über die verschiedenen Lebensanschauungen der Franzosen und der Russen.

Roger griff bei den Kirschen zu. »Man muss sie mit Sorgfalt aussuchen«, erklärte er zur Belehrung des ihm nur widerwillig zuhörenden George. »Denn nichts verursacht so schlimme Bauchschmerzen wie unreife Kirschen.«

»Ich nehme an, Sie sind recht froh, Mr. Petherton, dass die Ferien endlich begonnen haben?«, fragte Jacobsen.

»Froh? Das will ich meinen. Man ist vollkommen erledigt am Ende des Sommersemesters. Habe ich recht, White?«

White hatte die Gelegenheit genutzt, sich wieder umzuwenden und dem von Guy geführten Gespräch zuzuhören. Zurückgerufen wie ein Hund, der eine verbotene Fährte aufgenommen hat, stimmte er gehorsam zu, dass man am Ende des Sommersemesters tatsächlich erschöpft sei.

»Ich vermute«, setzte Jacobsen die Unterhaltung fort, »Sie unterrichten immer noch dieselben alten Dinge – Caesar, lateinische Verse, griechische Grammatik und so weiter? Wir Amerikaner können kaum glauben, dass das alles noch immer so weitergeht.«

»Gott sei Dank«, erwiderte Roger, »hämmern wir ihnen immer noch ein bisschen solides Wissen in ihre Köpfe. Aber es wird neuerdings viel Wesens um neue Curricula und so weiter gemacht. Man nimmt jetzt die naturwissenschaftlichen Fächer ziemlich wichtig, aber ich glaube nicht, dass die Kinder dabei überhaupt etwas lernen. Es ist die pure Zeitverschwendung.«

»Das ist alle Erziehung, wage ich zu behaupten«, sagte Jacobsen leichthin.

»Nicht, wenn Sie ihnen Disziplin beibringen. Was uns nottut, ist Disziplin. Die meisten Jungen brauchen reichlich Prügel, und die bekommen sie heutzutage nicht genug. Außerdem – wenn Sie schon kein Wissen in die Köpfe hämmern können, dann wenigstens ein bisschen in den Hintern prügeln.«

»Du bist sehr rabiat, Roger«, sagte Mr. Petherton mit einem Lächeln. Er fühlte sich besser; die Ente lag ihm nicht mehr wie Blei im Magen.

»Nein, es ist das Wichtigste überhaupt. Das Beste, was uns der Krieg gebracht hat, ist Disziplin. Unser Volk war schlaff geworden, es bedurfte der Straffung.« Das Gesicht Rogers glühte vor Eifer.

Vom anderen Ende des Tisches her konnte man die Stimme Guys hören. »Kennt ihr von César Franck ›Dieu s’avance à travers la lande‹? Es ist eines der schönsten Beispiele religiöser Musik, die ich kenne.«

Mr. Pethertons Miene erhellte sich. Er beugte sich vor. »Nein«, sagte er und mischte sich damit ganz unerwartet in das Gespräch der jungen Leute. »Ich kenne es nicht, aber kennt ihr das? Wartet einen Augenblick.« Er runzelte die Stirn, und seine Lippen bewegten sich, als versuche er, sich eine Formel ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ah, jetzt habe ich’s. Also, kannst du mir sagen, was das bedeutet? Welches berühmte Stück religiöser Musik nenne ich, wenn ich einem alten Zimmermann, einem früheren Liberalen, der jetzt zum Konservativismus übergelaufen ist, den Auftrag gebe, ein Bienenhaus anzufertigen?«

Guy gab es auf zu raten, und sein Vormund strahlte vor Entzücken.

»Hoary Tory, oh, Judas! Make a bee-house«, sagte er. »Verstehst du? Oratorio Judas Maccabeus.«

Guy hätte sich gewünscht, dass dieses Stück Strandgut aus der fröhlichen Jugend Mr. Pethertons ihm nicht in dieser Weise vor die Füße gespült worden wäre. Er hatte das Gefühl, einen ungehörigen Blick in »das dunkle Damals und den Abgrund der Zeit« getan zu haben.

»Der war gut«, sagte Mr. Petherton mit einem Kichern. »Ich muss doch sehen, ob mir nicht noch ein anderer einfällt.«