Wir sind die Guten

Dora Heldt

Wir sind die Guten

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Dora Heldt

Dora Heldt, 1961 auf Sylt geboren, ist gelernte Buchhändlerin und lebt heute in Hamburg. Mit ihren Romanen führt sie seit Jahren die Bestsellerlisten an, die Bücher werden regelmäßig verfilmt.

 

Weitere Informationen unter www.dora-heldt.de

Über das Buch

Ein Jahr ist vergangen, seit das Ermittlerteam um Karl Sönnigsen, Hauptkommissar a. D., der Polizei von Westerland erfolgreich gezeigt hat, wie man einen Serientäter stellt. Seitdem herrscht Ruhe auf der Insel. Bis Karls Team durch den Anruf einer Bekannten alarmiert wird: Deren Mieterin ist spurlos verschwunden. Es handelt sich bei der Vermissten um ebenjene junge Frau, die bei Charlotte und Inge, zwei der Hobby-Detektivinnen, ohne das Wissen der Ehemänner im Haushalt hilft.

Mit der Ruhe ist es vorbei auf Sylt. Und während Karl Sönnigsen sein Ermittlerteam um sich schart, um heimlich die verschwundene Frau zu finden, stochert die Polizei von Westerland im Fall eines unbekannten Toten am Fuß des Roten Kliffs mal wieder im Nebel.

 

Impressum

Originalausgabe 2017

2. Auflage 2018

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.

Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung eines Bildes von Markus Roost

Das Gedicht ›Was man so braucht‹ stammt aus: Mascha Kaléko: ›In meinen Träumen läutet es Sturm‹

© 1977 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

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eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook 978-3-423-43156-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21734-7

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423431569

 

 

die so viel Geduld mit mir haben.

Die schöne Frau hat rotes Haar. Es leuchtet in der schummrigen Kneipe. Durch das Fenster hindurch leuchtet es, fast wie ein Heiligenschein. Ich trete näher und lege die Handflächen auf die kalten Fensterscheiben. Sie sind gefroren, an den Stellen, an denen meine Hände liegen, taut die Eisschicht und gibt die Sicht frei. Da sitzt sie. An einem Tisch, zusammen mit den Männern. Sie lacht und gestikuliert wild. An ihren Handgelenken blitzt üppiger Schmuck, Armreifen, ich kann das Geklimper bis hier draußen hören. Nur das Geklimper, nicht das, was sie sagt. Seltsam. Ihr Mund bewegt sich, ihre Hände bewegen sich, sie wirft ihre Haare zurück, die roten Haare, die aussehen, als hätte man sie gerade gebürstet. Schöne Haare, sehr lang, lockig und so rot. Die Männer starren sie an. Sie sagen nichts, aber ich weiß plötzlich, was sie denken, ich kann es hören. Ich presse meine Stirn an die Scheibe, ich will, dass sie mich ansieht, sie bemerkt mich nicht, sie lacht die Männer an und klimpert mit ihren Armreifen. Ich presse meine Hände auf die Ohren, ich kann dieses Geräusch nicht ertragen, ich will hören, was sie sagt, aber die Armreifen sind zu laut. Einer der Männer beugt sich über den Tisch und greift ihr in das rote Haar. Er wickelt eine Locke um den Finger und lächelt. Seine Augen lächeln nicht, nur der Mund. Sie merkt es nicht, sie lässt es zu, dass er ihr Haar anfasst, ich will an die Scheibe

»Du musst es verhindern.« Ich erkenne die leise Stimme und drehe mich um. Ich sehe in seine freundlichen blauen Augen und weiß nicht, was ich machen soll. Er wird mir nicht helfen, er dreht sich um und geht weg, ich kann ihm nicht folgen, ich stehe hier wie angewurzelt und sehe auf meine Füße. Sie sind nackt und so kalt. Deshalb kann ich nicht laufen. Ich stehe barfuß auf einem gefrorenen Weg, der voller kleiner Steinchen ist, aber ich spüre nichts. Ich kann mich nur nicht von der Stelle bewegen. Mir wird heiß, und ich sehe wieder durchs Fenster. Die rothaarige Frau ist aufgestanden, sie legt sich einen Schal um ihren schönen Hals. Ich kann den Schal jetzt ganz deutlich erkennen, er ist grün mit kleinen roten Rosen. Ein hübscher Schal, sie legt ihn doppelt und zieht ihn zusammen, er steht ihr gut, so einen hätte ich auch gern. Die Männer folgen ihr. Einer von ihnen zieht jetzt einen Autoschlüssel aus der Tasche, ich kenne diesen Schlüssel, ich kenne auch das Auto, jetzt kann ich etwas tun, jetzt muss ich etwas tun. Es wird alles gut, ich weiß es, ich mache einen Schritt, ich kann laufen, ich gehe um die Ecke zum Parkplatz, meine nackten Füße spüren keine Kälte, keine Steinchen. Die Gruppe kommt mir entgegen, die roten Haare leuchten von weitem, sie geht ein Stück hinter den Männern, sie ist schön und sie lacht. Ich laufe auf sie zu, es geht leicht, ich bin schnell, aber sie sehen mich nicht. Jetzt habe ich sie erreicht, ich stelle mich vor die Frau, breite meine Arme aus, sage: »Bleib stehen, geh nicht mit ihnen mit, du …«, aber sie geht einfach an mir vorbei. Ich bin unsichtbar.

 

Schweißgebadet und mit rasendem Puls lag sie im Bett. Mühsam setzte sie sich auf, knipste die kleine Lampe an, sah sich um. Ihr Herz pochte wild, sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen, stellte die Füße auf den kalten Boden und legte die Hände an die Schläfen. Sie zählte bis zwanzig, dann öffnete sie die Augen. Ihr Blick wanderte durchs Zimmer, der kleine Schreibtisch, ihre Kleidung vom Vortag, die über dem Stuhl hing. Die blaue Strickjacke, die bunte Bluse, die Jeans. Vertraute Einzelheiten. Sie war in Sicherheit. Alles war gut. Ihr konnte nichts mehr passieren. Sie stand auf und sah durchs Fenster in die Nacht. Die Äste der großen Linde vor dem Haus bewegten sich. Es ging ein leichter Wind, der auch um den Fahnenmast fuhr. Die Metallösen an den Bändern schlugen an den Mast, es hörte sich fast an wie klimpernde Armreifen.

leicht bewölkt, 16 Grad

Die meisten Unfälle passieren im Haushalt.« Inge blieb an der Tür stehen und schüttelte empört den Kopf. »Und genau deshalb habe ich diese teure Leiter gekauft. Sabine, die müssen Sie jetzt aber auch benutzen.«

»Bis ich die aufgestellt habe, ist das Fenster schon geputzt.« Lächelnd stieg Sabine Schäfer vom Stuhl und nahm den kleinen Eimer von der Fensterbank. »Schon fertig. Ohne Unfall.«

»Es ist mein Ernst.« Energisch ging Inge durch den Raum und schob den Stuhl zurück an den Tisch. »Dieser Stuhl ist erfunden worden, damit man sich drauf setzt, nicht stellt. Ich will nicht noch einmal sehen, dass Sie darauf balancierend die Fenster putzen. Sie sind doch hier nicht im Zirkus. So. Und jetzt kommen Sie, Kaffee ist fertig. Sie müssen unbedingt diese kleinen schwedischen Kuchen probieren. Rezept von Charlotte. Meine Schwägerin backt immer so besondere Sachen.«

Sabine folgte ihr langsam in die Küche, leerte den Eimer aus und wischte sich die Hände trocken, bevor sie sich setzte. »Frau Müller, Sie müssen sich doch nicht immer solche Mühe machen.« Ihr Blick wanderte über den gedeckten Tisch. »Ich bin ja kein Kaffeebesuch.«

»Na, zum Glück.« Inge goss Kaffee in die Tassen. »Wissen Sie, wie Charlotte und ich Sie nennen? Die Fee. Was ist dagegen ein langweiliger Kaffeebesucher?«

»Danke.« Sabine hob den Blick und sah sie an. »Gut. Jetzt wird das Wetter ja auch noch schön, da hat man doch gleich bessere Laune.«

»Ja.« Inge nickte. »Für Mai ist es bis jetzt ja auch ganz schön kalt.« Sie machte eine Pause und wartete, bis Sabine in der nachfolgenden Stille das kleine Stück Kuchen aufgegessen und Kaffee getrunken hatte. »Haben Sie eigentlich für den Sommer irgendwelche Urlaubspläne?«

»Noch nicht.« Lächelnd schob Sabine ihren Teller von sich und sah Inge an. »Und wenn, dann sage ich Ihnen rechtzeitig Bescheid.«

»So war das gar nicht gemeint.« Inge hob die Hände. »Ich habe wirklich nur aus Interesse gefragt. Sie können natürlich jederzeit in den Urlaub fahren, Hauptsache, Sie kommen wieder.«

Sabine lachte. »Ich bin mit der Arbeit bei Ihnen sehr zufrieden, Frau Müller, Sie müssen sich nicht solche Gedanken machen. Aber jetzt muss ich mal auf die Uhr sehen. Ich habe nur noch eine Stunde und oben noch gar nicht angefangen. Danke für den Kaffee.« Sie stand schon und trug ihr Geschirr zur Spüle, bevor sie den Raum verließ.

»Die Leiter«, rief Inge ihr hinterher, dann nahm sie

Eine Stunde später wartete sie, bis Sabine ihre Schuhe gewechselt hatte und in ihre Jacke geschlüpft war, dann drückte sie ihr die vereinbarten Geldscheine in die Hand.

»Vielen Dank, meine Liebe, und dann bis in zwei Wochen.«

Sabine schob das Geld sorgsam in ihr Portemonnaie. »Danke auch, Frau Müller. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Bis zum nächsten Mal.«

Inge sah ihr nach, wie sie mit langen Schritten zur Bushaltestelle lief. Der Bus kam genau in dem Moment, in dem Sabine die Haltestelle erreicht hatte. Ohne sich noch einmal umzusehen, stieg sie ein. Dann fuhr der Bus ab. Inge blieb stehen, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Sie wollte gerade die Haustür schließen, als sie das kleine rote Auto ihrer Schwägerin entdeckte. Charlotte fuhr langsam auf ihr Haus zu, blinkte vorschriftsmäßig und parkte neben der Auffahrt. Langsam stieg sie aus. »Hallo Inge, wartest du auf mich?«

»Nein.« Inge trat einen Schritt zurück und hielt die Tür

»Ach? Ist das schon so spät?« Charlotte sah sofort auf die Uhr. »Tatsächlich. Ich habe mich so vertrödelt, stell dir vor: Beim Einkaufen habe ich den halben Chor getroffen. Erst Gisela auf dem Parkplatz, dann Onno an der Kühltheke, Helga beim Gemüse, und im Waschmittelgang stand dann auch noch Elisabeth. Da kommst du nicht durch, mit oder ohne Einkaufszettel, ich habe fast eine Stunde gebraucht.«

»Gibt es was Neues?«

Inzwischen war Charlotte eingetreten und hatte ihre Jacke an die Garderobe gehängt. »Nö. Nichts Besonderes. Es riecht hier so gut. Herrlich. Ich freue mich schon auf nächste Woche, da bin ich dann dran.«

»Kaffee?«

»Gern.«

Die Thermoskanne stand immer noch auf dem Küchentisch, Inge holte eine frische Tasse aus dem Schrank und setzte sich Charlotte gegenüber. »Ich mache ja jedes Mal eine ganze Kanne Kaffee«, sagte sie, während sie einschenkte. »Aber Sabine trinkt immer nur eine Tasse, isst eine Kleinigkeit, weil sie zu höflich ist, um abzulehnen, und dann springt sie auf und macht weiter. Kannst du dich mit ihr richtig unterhalten?«

»Was heißt richtig?« Charlotte inspizierte die kleinen Törtchen. »Sind die nach meinem Rezept? Da musst du mehr Zimt drauf machen.«

Inge schob ihr die Milch zu. »Ich meine, dass man mal ein bisschen länger klönt. So über Gott und die Welt. Aber sie ist so arbeitsam.«

»Wieso das dänische Königshaus?« Inge hob irritiert die Augenbrauen. »Was ist denn mit denen?«

»Nichts«, winkte Charlotte ab. »Die fielen mir nur gerade ein. Weil du dich doch für die Königshäuser interessierst.«

»Du doch auch.«

»Inge, das war doch nur ein Beispiel.« Charlotte probierte das Törtchen und nickte anerkennend. »Schmecken sonst gut. Aber wie gesagt, oben drauf mehr Zimt. Jedenfalls bin ich froh, dass sie so schnell und zügig arbeitet. Du, das ist immer noch mein Albtraum: Irgendwann kommen Heinz und Walter früher aus der Sauna zurück und treffen auf sie. Mit dem Staubsauger in der Hand, da können wir dann auch nicht mehr sagen, dass sie nur Kaffeebesuch ist. Stell dir das mal vor!«

»Bloß nicht.« Inge schüttelte sich. »Ich hoffe nur, dass uns was einfällt, wenn das wirklich mal passiert. Wird schon. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Männer früher zurückkommen, geht gegen null. Sie ändern nie ihre Gewohnheiten. Und wenn, müsste richtig was passieren, dann wären sie im Krankenhaus. Und wir wären raus.«

Charlotte sah sie an. »Also Inge«, sie schüttelte den Kopf. »Manchmal bist du mir zu brutal. Krankenhaus. Du hast vielleicht Ideen.«

»Es sind keine Ideen.« Unbekümmert biss Inge in ein zweites Törtchen. »Ich habe manchmal Bilder im Kopf. Und das Bild von Walter und Heinz beim

»Nur ganz kurz.« Charlotte lächelte. »Dass sie ein sehr schönes Hotel hatten, von ihrem Zimmer aus auf die Ostsee sehen konnten und viel Fahrrad gefahren sind. Helga wird immer ein bisschen rot, wenn sie erzählt. Irgendwie niedlich.«

»Sie muss sich vielleicht noch daran gewöhnen, dass sie wieder verliebt ist. In ihrem Alter.« Seufzend stützte Inge ihr Kinn auf die Faust. »Es ist aber auch zu schön. Fast siebzig und Herzklopfen wie eine Siebzehnjährige. Und Onno sieht auch so glückselig aus. Oder?«

Ihre Schwägerin nickte. »Das stimmt.« Ihr Blick ging zum Fenster. »Oh. Und jetzt müssen wir auch glückselig aussehen, da kommen unsere Männer.«

Heinz und Walter brachten eine Wolke von Dusch- und Saunaduft in den Raum. »Hier kommen die Gesalbten.« Heinz blieb vor dem Tisch stehen und betrachtete interessiert die Törtchen. »Das sieht ja gut aus. Setz dich, Walter, wir haben uns so viele Kilos weggeschwitzt, da passen jetzt wieder Kaffee und Kuchen rein.«

»Vom Saunieren nimmt man nicht ab«, sagte Inge und sah ihren Bruder Heinz stirnrunzelnd an. »Und was sind die Gesalbten?«

»Männer im besten Alter, die sich nach drei Saunagängen und einigen Bahnen athletischen Schwimmens nach dem Duschen mit Nivea eingecremt haben.« Walter strich seiner Frau leicht über den Kopf. »Ingelein, wir haben eine Haut wie ein Kinderpopo.« Er setzte sich und sah sich suchend nach einer sauberen Tasse um.

»In der Küche.« Inge hatte seinen Blick verstanden, blieb aber sitzen. »Da müsstest du deinen Kinderpopo aber selbst hinbewegen. Ich habe den ganzen Morgen geputzt.«

»Ja.« Heinz hatte schon die Hand auf dem Kuchenteller. »Aber mach nicht gleich alles wieder schmutzig.« Er zog Charlottes Teller zu sich. »Du bist ja fertig mit dem Kuchen, oder?« Ohne die Antwort abzuwarten, legte er ein Törtchen drauf. »Wir haben Maren in der Sauna getroffen. Schöne Grüße.«

»Welche Maren?« Inge schob ein paar Krümel, die Heinz vom Teller gefallen waren, auf ein Häufchen. »Halte mal den Mund über den Teller, du krümelst alles voll.«

»Maren Thiele.« Beim Antworten flogen die nächsten Krümel über den Tisch. »Onnos Tochter.«

»Die hatte heute frei.« Walter war mit zwei Tassen in der Hand aus der Küche zurückgekehrt. »Hier passieren im Moment ja nicht so viele Verbrechen. Da kann die Polizei auch mal eine ruhige Kugel schieben und sich in die Sauna setzen.« Er nahm Platz, griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich und seinem Schwager ein. »Sie hat erzählt, dass sie ihre Überstunden abbummelt, weil es gerade so ruhig ist. Ich glaube ja, dass es ihr hier auf Dauer zu langweilig wird. Immer nur Alkoholsünder, Raser und Urlauber ohne Benehmen. So ein junger Mensch will doch auch mal einen Serienmörder oder eine Politikerentführung oder eine Millionenerpressung. Aber in dieser Hinsicht ist auf Sylt ja nichts los.«

»Na, Gott sei Dank«, antwortete Charlotte und stand auf. »Ich brauche das auch nicht. Wobei ich dich daran erinnern muss, dass wir im letzten Jahr eine Erpressung und einen Todesfall hatten. Du bist ja nur immer noch beleidigt, dass ihr nichts davon mitbekommen habt. So, ich muss los, ich habe meine ganzen Einkäufe noch im Auto.

»Ich komme mit.« Im Aufstehen trank er seinen Kaffee aus. »Der ist nicht mehr ganz heiß, Inge. Steht schon zu lange. Macht aber nichts. Ich trinke nach der Sauna sowieso lieber ein Bierchen.«

Charlotte stand schon an der Haustür und drehte sich ungeduldig um. »Jetzt komm. Und nimm deine Saunatasche mit, du bist gerade an ihr vorbeigelaufen.«

Heinz machte auf dem Absatz kehrt und schulterte die Tasche. »Ich dachte, du hast sie schon. Tschüss, Familie. Bis bald.«

blauer Himmel, 19 Grad

Sie liebte diesen Platz. Sie saß auf einem der hohen Stühle unter einem Schirm und hatte einen freien Blick auf den Trubel, der um sie herum herrschte. Familien mit Kindern, Fahrradfahrer, die ihre Tour hier unterbrachen, Touristengruppen, die mit Bussen über die Insel gefahren wurden und eine Stunde Aufenthalt hatten, um ein Fischbrötchen oder ein Eis zu essen, verliebte Paare, die auf Sylt ein paar Tage Zweisamkeit genossen, und Cliquen aus Hamburg, die das schöne Wetter für ein Partywochenende nutzten. Der Lister Hafen war ein Anziehungspunkt der Sylter Gäste, hier wurde gegessen, getrunken, eingekauft, hier buchte man Ausflugsfahrten oder saß einfach eine Zeitlang in der Sonne. Obwohl sie Menschenmengen hasste: hier gab es immer einen Platz in einer Ecke, an dem man ungestört einen Kaffee oder Wein trinken konnte, von wo aus man in aller Ruhe die Menschen beobachten, sich ihre Geschichten und Leben ausmalen konnte und Teil einer Leichtigkeit wurde, die einem einfach so geschenkt wurde. Sie kam nicht oft her, es wäre sonst nichts Besonderes, aber bei so schönem Wetter wie heute, bei diesem blauen Himmel, den wenigen Federwolken und dieser seltenen Windstille war das einer der besten Orte, die sie kannte. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und schloss die Augen, es war herrlich. Sie liebte diese ersten Frühsommertage, sie fühlten sich so vielversprechend an, so zärtlich und

Sie legte ihre Gabel in das leere Scampischälchen und stand mit ihrem Glas Wein in der Hand auf, um sich einen anderen Platz zu suchen. Es war ihr entschieden zu viel Privates, was sie sich hier anhören musste. Sie wollte Leichtigkeit und keine Katastrophen. Ein ganzes Stück weiter stand gerade ein Mann mit einem halbwüchsigen Sohn auf. Alleinerziehend, mutmaßte sie. Oder ein getrennter Vater, der aus lauter schlechtem Gewissen Vater-Sohn-Wochenenden auf Sylt verbrachte. Die beiden mochten sich, das sah man, es war nicht ihr erster gemeinsamer Ausflug. Also doch kein schlechtes Gewissen,

»Viel Spaß«, antwortete sie und sah den beiden hinterher. Der Vater legte seinem Sohn beim Laufen den Arm um die Schultern. Hier war wieder Leichtigkeit im Leben. Sie setzte sich und trank einen Schluck Wein. Die Fähre aus Dänemark fuhr langsam an ihr vorbei zum Anleger. Sie folgte ihr mit den Blicken und nahm sich vor, demnächst mal wieder mitzufahren. Es war zwar keine große Reise, aber sie mochte Schiffe. Sie hatte es schon ab und zu mal gemacht, etwas über eine halbe Stunde hin, ein kleiner Spaziergang am Hafen, ein dänisches Hotdog auf die Hand und dann wieder zurück. Es war wie ein kleiner Urlaub, manchmal reichten auch ein paar Momente auf dem Meer, um sich lebendig zu fühlen. Die Fähre verschwand aus ihrem Blickfeld, und sie sah sich wieder um. Hinter ihr war eine Gruppe junger Leute, vielleicht Mitte zwanzig. Sie waren in Feierlaune, einer von ihnen hatte anscheinend großzügige Eltern, die ihnen ihr Ferienhaus für ein Wochenende zur Verfügung gestellt hatten. Der Sohn kannte sich aus, machte Vorschläge für die kommenden Tage, er hatte etwas leicht Gönnerhaftes. Zwei der jungen Mädchen wechselten einen Blick, anscheinend tat es ihnen schon leid, der Einladung des Knaben gefolgt zu sein. Sie hatten zwar Sylt umsonst, aber dafür einen Angeber mit langweiligen Vorschlägen an der Hacke.

Zwei Tische neben ihr saß ein altes Paar, beide in zweckmäßigen Regenjacken, ihre war rot, seine blau. Es war schon seltsam, dass manche Zuordnungen ein ganzes Leben lang hielten. Die beiden hatten jeweils ein Fischbrötchen in der Hand, Matjes mit Zwiebeln, dazu trank

»Guck dir mal die Blonde dahinten an.« Sie merkte der Stimme schon an, dass hier nicht der erste Wein bestellt wurde. »Mein lieber Mann, die würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen. Heißes Gerät.«

Gemeint war eine junge Blondine, die allein an einem Tisch stand und offensichtlich auf jemanden wartete. Dieser Jemand kam auch in diesem Moment: groß, breitschultrig, tätowiert. Die blonde Frau hatte Glück, die Männer auch, der Begleiter hatte den dämlichen Spruch nicht gehört.

»Leg dich mit dem bloß nicht an.« Auch der zweite Mann hatte eindeutig schon einen sitzen. »Geh mal lieber noch einen Wein holen. Wir sind ja nicht zum Spaß hier.«

In das laute Gelächter fiel der erste wieder ein: »Ist meine Runde, ich gehe«, rief er großspurig.

Etwas an seiner Stimme zwang sie, sich umzudrehen. Er ging etwas unsicher zum Tresen, Jeans, Hemd mit

immer noch wolkenloser Himmel

Papa?« Maren schob die offen stehende Haustür vorsichtig ein Stück auf. »Bist du da?« Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und trat ein. »Hallo? Papa?« Plötzlich spürte sie hinter sich eine Bewegung, dann drückte sich ein Gegenstand in ihren Rücken. »Hände hoch.«

Maren drehte sich um. Ihr Vater stand mit einer Gurke in der Hand hinter ihr und grinste sie an. »Du machst für eine Polizistin erstaunlich viele Fehler. Sei froh, dass es nur eine Gurke war. Sonst wärst du jetzt vielleicht tot.«

»Ja, ja.« Maren ließ ihm den Vortritt und folgte ihm in die Küche. »Und du lässt die Haustür offen stehen. Da kann doch jeder reinkommen.«

»Mein liebes Kind«, Onno legte die Gurke auf die Spüle und drehte sich zu ihr um. »Ich habe hier alles im Blick, da sei sicher. Ich war nur kurz im Gewächshaus. Hast du an die Krabben gedacht?«

Statt einer Antwort schwang Maren die Plastiktüte, die sie in der Hand hielt. »Ist deine Helga nicht da?«

»Sie ist beim Friseur. Lässt sich schön machen.« Er sah sie forschend an, sah aus, als würde er etwas sagen wollen, ließ es aber.

Maren ließ sich auf die Bank sinken. »Das ist sie doch schon.«

Onno nickte. »Finde ich auch. Möchtest du was

»Eine was?«

»Eine Quietsch«, wiederholte Onno etwas lauter. »Mit Krabben. Und asiatischem Gurkensalat.«

Maren verbiss sich ein Lachen. »Eine Quiche. Ach so.«

»Sag ich doch.« Onno lächelte. »Du hast es mit den Ohren, oder? Musst du mal durchpusten lassen. Also, willst du was trinken? Tee?«

Maren war es lieber, dass Onno das Essen kochen konnte, als dass er es richtig aussprach. Das war doch wirklich egal. Sie wartete, bis ihr Vater sich setzte. Er hatte einen Gesichtsausdruck, den Maren sehr gut kannte. Er wollte irgendetwas mit ihr besprechen und wusste nicht, wie er anfangen sollte. Stattdessen griff er zur Zuckerdose und fing an, sie zu drehen, eine Runde, eine zweite Runde, bei der dritten legte Maren ihre Hand auf seine.

»Sprich«, sagte sie sanft, »bevor die Dose kaputtgedreht ist. Die ist noch von Mama.«

»Genau«, Onno sah hoch und zog seine Hand weg. »Das ist das Stichwort. ›Mama‹.« Er machte eine Pause, schob die Zuckerdose ein Stück zur Seite und räusperte sich. »Ich wollte mal was mit dir bereden.« Und schwieg.

»Papa. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Was willst du mir sagen?«

»Ja.« Onno nickte. »Wie soll ich anfangen? Also, ich habe mir so meine Gedanken gemacht.«

Pause.

»Und was sind das so für Gedanken?«

»Ganz unterschiedliche. So über dieses und jenes.«

»Und?«

»Nichts und. Ich denke einfach über das Leben nach.

Maren schloss die Augen. Dieses Gespräch konnte sich noch über Stunden hinziehen. Ihr Vater hatte viele Talente – über seine Gefühle zu sprechen gehörte nicht dazu. Sie sah ihn an, seine Hand lag noch immer auf der Zuckerdose. »Papa, es wäre schön, wenn du mal auf den Punkt kämst. Was hat die Zuckerdose und was hat Mama mit deinen Gedanken zu tun?«

»Wieso die Zuckerdose?« Jetzt war Onno erstaunt. »Nur weil ich sie gedreht habe?«

»Nein, weil du gesagt hast, die Zuckerdose sei das Stichwort.«

»Mama«, korrigierte Onno freundlich. »Ich sagte ›Mama‹ sei das Stichwort.«

Maren musterte ihn. »Wenn diese Szene in einem amerikanischen Mafiafilm vorkäme, würde ich jetzt beginnen, dich zu foltern. Bis du endlich mal auspackst. Also, Onno Thiele, entweder sagst du jetzt, was du willst, oder ich verliere die Geduld.«

»Folter ist verboten.« Onno fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, bis es in alle Richtungen abstand, dann glättete er seine Frisur wieder und atmete tief ein und aus. »Also, ich wollte dich fragen, ob deine Entscheidung, diese ganzen Weiterbildungen auf dem Festland zu machen, mit Helga zu tun haben. Und du bist ja auch am Wochenende viel aushäusig.«

»Was?« Erstaunt sah Maren ihren Vater an. »Wie meinst du das?«

»Ich habe mir überlegt, dass du das vielleicht nicht so gut findest, dass Helga hier einzieht, und du deswegen immer wegwillst. Ist das so?«

»Nein.« Maren schüttelte entschieden den Kopf. »Papa,

»Im Ernst?« Noch etwas skeptisch fragte Onno nach: »Und das stört dich wirklich nicht? Also gerade, weil du erst im letzten Sommer zurückgekommen bist. Vielleicht möchtest du ja doch mehr Dinge mit mir zusammen machen. Oder mich für dich haben. So ganz allein.«

Maren überlegte, was sie dazu sagen konnte. Natürlich hatte ihr verwitweter Vater etwas damit zu tun gehabt, dass sie sich von Münster zurück auf die Insel hatte versetzen lassen. Aber schon nach wenigen Tagen war ihr klar geworden, dass ihr Vater keinesfalls Hilfe brauchte, schon gar nicht ihre. Er hatte sich schon auf seine Art über ihre Rückkehr gefreut, aber gleich mitgeteilt, dass er überhaupt keine Absicht hegte, in irgendeiner Form sein Leben zu ändern, in dem er sich eigentlich ganz gut eingerichtet hatte. Das hatte erst Helga Simon geschafft. Und Maren freute sich darüber.

»Papa«, sagte sie jetzt langsam. »Du musst dir wirklich überhaupt keine Gedanken machen. Zum Ersten muss ich mich doch gar nicht mit Helga arrangieren, sie zieht ja nicht in meine Einliegerwohnung, sondern zu dir. Zum Zweiten hast du auch vor Helga deine Abende nicht mit mir, sondern eher im Kochclub, im Chor oder mit Karl verbracht. Und zum Dritten hatte ich mich schon lange für die Weiterbildung beworben, das hat überhaupt nichts mit dir und Helga zu tun. Ich bin eher überrascht, dass du mich so einschätzt. Und solche Dinge denkst.«

»Ich habe mir das ja nicht selbst ausgedacht«, räumte Onno ein. »Karl hat das gesagt.«

»Dass du unglücklich aussiehst. Und dass es für Töchter nicht einfach ist, wenn der Vater plötzlich eine neue Partnerin anschleppt. Und ich mir darüber Gedanken machen muss.«

Maren verschluckte sich fast. »Karl? Das glaube ich jetzt nicht. Soll ich dir was sagen? Er ist eifersüchtig. Weil du nicht mehr ständig verfügbar bist und er hier nicht mehr stundenlang in der Küche hocken und dich ungestört vollsabbeln kann.«

»Maren.« Vorwurfsvoll unterbrach Onno sie. »Er ist dein Patenonkel. Und so oft saß er ja gar nicht in der Küche.«

»Doch. Dauernd. Seit er pensioniert und kein Polizeichef mehr ist, hat er Langeweile, und du weißt, dass Karl Revierverbot hat. Gerda kann ihn auch nicht immer um sich haben und schickt ihn so oft wie möglich wegen irgendwelcher Besorgungen los. Die dann immer hier enden. Er will dir nur ein schlechtes Gewissen machen.«

»Meinst du?« Onno schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

Eine scheppernde Fahrradklingel unterbrach das Gespräch. Maren deutete nach draußen. »Wenn man vom Teufel spricht. Du kannst ihn gleich selber fragen. Auch wenn er es nie zugeben würde. ›Für die Töchter ist es nicht einfach, wenn der Vater plötzlich eine neue Partnerin anschleppt.‹ Der spinnt doch.«

»Kind, bitte!« Onno stand auf. »Nicht, dass er dich hört.«

»Wer darf was nicht hören?« Karl war schon in der Küche angekommen. »Na, Maren? Keinen Dienst heute? Wird die Insel wieder dem Verbrechen überlassen? Oder macht dein Chef Runge die gesamte Aufklärungsarbeit

»Meine Augen rollen automatisch, wenn ich dich den Namen Runge aussprechen höre«, Maren drehte sich zu ihm. »Hör doch mal auf zu provozieren.«

Karl hob seine Hände und sah sie erstaunt an. »Ich provoziere doch nicht. Du bist so empfindlich. Aber das kennt man aus der Psychologie. Wenn man einen Partner oder ein Kind immer verteidigen muss, weil dauernd was schiefläuft und niemand ihn mag, dann ist man bei der kleinsten Kritik schon auf Zinne. So wie du. Mit deinem Chef. Den musst du auch dauernd verteidigen, weil er so dämlich ist.« Sehr zufrieden mit seiner Ausführung lächelte Karl Maren an, bevor er sich an den Tisch setzte. »Ich nehme es dir nicht übel. Du hast es ja auch nicht gerade leicht.«

Nach einem sehr langen Blick auf ihn stand Maren langsam auf. »Karl, manchmal gehst du mir echt auf die Nerven. Kann es sein, dass du ein böser, nachtragender, alter Mann wirst?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern ging zur Tür. »Bis später, Papa, ich komme nachher noch mal rein.«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Karl wartete einen Moment ab, dann wandte er sich an Onno. »Sie ist ja so empfindlich geworden«, sagte er mitleidig. »Es ist auch zu viel. Erst dieser cholerische Chef, dann der Freund, der so kurz nach Beginn der Liebesgeschichte wieder von der Insel flieht, und dann noch eine fremde Frau, die den Platz ihrer Mutter einnehmen will. Mann, Mann, wir müssen auf sie aufpassen. Warum stehst du eigentlich die ganze Zeit? Setz dich doch mal hin.«

Onno war dem kurzen Gespräch an die Spüle gelehnt gefolgt. Er hielt ein Geschirrtuch in der Hand, das er

Mit einem Ruck löste sich Onno von der Spüle und ging auf Karl zu. »Vielleicht sollte ich sie nass machen und dich damit verprügeln«, antwortete er, schüttelte das Tuch dann aber aus. »Ich neige dazu, meiner Tochter recht zu geben, Karl. Du wirst ein böser, nachtragender, alter Mann. Wir müssen uns mal unterhalten.«

»Wir? Worüber denn?« Erstaunt sah Karl ihn an. »Nur weil Maren komisch ist, hat sie doch noch lange nicht recht. Und ich nehme ihr das nicht übel, ich habe schon so viele Menschen unter Stress erlebt, das macht mir nichts aus.«

Onno ließ sich auf den Stuhl sinken und faltete die Hände auf dem Tisch. »Es geht jetzt mal nicht darum, was dir etwas ausmacht, Karl. Ich will, dass du mir mal zuhörst und …«

»Mir macht es ja eben nichts aus.«

»… und mich ausreden lässt. Halt doch mal für einen Moment die Klappe.«

Karl schloss sofort verblüfft den Mund, diesen rüden Ton hatte er von seinem freundlichen Onno noch nie gehört. Der fuhr mit ruhiger Stimme fort:

»Sieh mal, es ist für alle Menschen eine große Veränderung, wenn sie aus dem Berufsleben ausscheiden. Man muss sich neue Aufgaben oder Hobbys suchen, das fällt manch einem schwerer als anderen. Aber wir sollten das mit Würde und Anstand tun. Bei dir …«

»Ich habe Würde und …«

»Karl, unterbrich mich nicht, sonst breche ich das Gespräch sofort ab und mache das Handtuch nass.« Onno hatte tatsächlich seine Stimme erhoben. Karl war zu fassungslos, um etwas zu entgegnen.

»Darf ich antworten?«

»Bitte.« Onno ignorierte Karls beleidigten Ton. »Aber kurz. Ich bin noch nicht fertig.«

Nach einem tiefen Atemzug hob Karl den Kopf und sah Onno fast resigniert an. »Wie lange sind wir schon befreundet? Nein, lass mich antworten, ich habe es nämlich im Kopf: seit fünfundvierzig Jahren. Was haben wir in dieser Zeit alles erlebt? Auch das sage ich dir: zwei Hochzeiten, mehrere Beerdigungen, drei Kinder, viele Segeltörns, genauso viele Geburtstagsfeiern, Silvesterpartys, Ostereiersuchen, Sommerurlaube, viele …«

»Karl, komm auf den Punkt.«

»Man kann es mit einem Satz auf den Punkt bringen. Wir sind wie ein altes Ehepaar. Und das hat ab und zu mal Krisen. Mal sind die dem Geld geschuldet, mal der Kindererziehung, mal den unterschiedlichen Auffassungen über den Haushalt. All das betrifft uns nicht, aber der schlimmste Grund, der hat uns nun ereilt. Eine andere Frau.«

»Hä?« Verblüfft sah Onno ihn an. »Was meinst du denn damit?«

»Helga.« Mit einem nachdrücklichen Nicken verschränkte Karl seine Arme vor der Brust. »Versteh mich nicht falsch, sie ist mir sehr sympathisch, und ich gönne dir ja auch deinen späten zweiten Frühling, aber

Fassungslos schüttelte Onno den Kopf. »Karl. Ich glaube, du wirst tatsächlich langsam seltsam. Was hat denn Helga mit deiner Fehde mit Runge zu tun? Und dass du dich nicht daran gewöhnen kannst, im Ruhestand zu sein? Das war unser Thema, was hast du denn daran nicht verstanden?«

»Du musst immer das Große und Ganze sehen. Ich muss mich gerade mit zwei schwerwiegenden Änderungen in meinem Leben auseinandersetzen, dem Ruhestand und dem Verlust meines besten Freundes. Das muss ich auch erst mal verarbeiten, ich bin sensibler, als du glaubst. Und nur fürs Protokoll, ich habe keine Fehde mit Runge, ich kann ihn nur nicht leiden. Und er hat damit angefangen.« Karl sah sich um. »Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben, ich bin so furchtbar durstig.«

»Wasser?« Stirnrunzelnd sah Onno ihn an. »Ich denke, das trinkst du nur, um Tabletten runterzuspülen.«

»Ich wollte dir keine Mühe machen.« Entwaffnend lächelte Karl ihn an. »Aber was anderes wäre mir natürlich lieber. Falls es wirklich keine Mühe macht.«

Onno verzog keine Miene. »Kaffee?«

»Um Himmels willen, es ist nach fünf, dann kann ich nicht schlafen. Nach Tee übrigens auch nicht. Bier ginge.« Er lächelte seinen ältesten Freund an, als der ihm eine Flasche Bier auf den Tisch stellte. »Danke. Du nicht?«

»Nein.« Onno setzte sich an den Tisch. »Ich möchte nichts. Aber zurück zum Thema, ich …«

»Onno«, Karl unterbrach ihn, indem er seine Hand auf Onnos Arm legte. »Lass uns an diesem schönen Tag nicht streiten. Habe ich dir schon erzählt, dass ich mir einen

Bevor Onno antworten konnte, klingelte es an der Haustür. »Entschuldige«, sagte er mit einem kleinen Lächeln und stand auf. »Helga benutzt nie ihren Schlüssel, wenn ich da bin.«

Missmutig sah Karl ihm hinterher. Im letzten Jahr hatte Onno dauernd über Rückenschmerzen geklagt, und kaum war eine Frau im Spiel, schwebte er geradezu durchs Haus. Unwirsch leerte er sein Bier und stand auf. Hier wurde er im Moment nicht mehr gebraucht.

nach Einsetzen der Dämmerung, 14 Grad

Hey, Rike, ich bin’s«, Maren legte ihre Füße auf den Tisch und griff zu ihrem Teebecher. »Hast du Zeit für einen kleinen Plausch?«

»In fünf Minuten«, war die Antwort am anderen Ende. »Ich muss noch eine Sache zu Ende machen, danach kann ich stundenlang mit dir telefonieren, ich bin sowieso allein. Bis gleich.«

Maren legte das Telefon neben sich und sah auf die Uhr. Wenn Rike fünf Minuten sagte, dann meinte sie auch fünf Minuten, sie war da sehr zuverlässig. Immer schon. Sie kannten sich seit der Grundschule, ihre Freundschaft hatte Bestand gehabt, auch wenn sie sich zeitweise nur selten gesehen hatten. Das hatte aber immer nur an der jeweiligen Entfernung ihrer Wohnorte gelegen. Im letzten Jahr war Maren zurück auf die Insel gekommen, sehr zu Rikes Freude. Allerdings hatte diese Freude nicht lange gewährt. Rike hatte sich kurz nach Marens Rückkehr auf die Insel in einen Hamburger Architekten verliebt – und war prompt Anfang des Jahres zu ihm gezogen. Ende der Freude. Auch wenn Andreas eine Wohnung auf Sylt hatte und die beiden oft übers Wochenende herkamen, war die schöne Zweisamkeit schneller vorbei gewesen, als sie angefangen hatte. Seufzend blickte Maren auf die Uhr. In diesem Moment waren die fünf Minuten vorbei und das Telefon klingelte.

»Ganz gut«, Maren überlegte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Na ja, eigentlich nur mittelgut. Irgendwie ist mein Leben im Augenblick entweder langweilig oder anstrengend, ich hätte gern mal was dazwischen.«

»Wie, langweilig? Hast du Karl und Onno entsorgt?« Rike lachte über ihren eigenen Witz, Maren fand das überhaupt nicht komisch.

»Das Thema fällt unter die Rubrik ›Anstrengend‹«, antwortete sie langsam. »Aber der Rest ist so langweilig, der Job, die Insel, ich selbst, Rike, ich kann mich gerade überhaupt nicht leiden.«

»Hey«, Rike spürte sofort, dass da noch was anderes war. »Jetzt sag schon, was ist los? Hängt es mit … der Liebe zusammen? Ist die vielleicht auch ein bisschen anstrengend?«

»Das …«, Maren zögerte mit ihrer Antwort. »Das ist gerade ein ganz schlechtes Thema. Sehr dünnes Eis. Ich glaube, da will ich besser gar nicht drüber reden.«

»Oh.« Am anderen Ende entstand eine kleine Pause. Dann fragte Rike vorsichtig: »Habt ihr euch gestritten?«

Maren hob den Kopf und betrachtete das Foto, das im Glaseinsatz des alten Schranks klemmte. Ein Schnappschuss, der sie in der Umarmung von Robert zeigte. Sie standen im Abendlicht auf dem Roten Kliff, trugen weiße T-Shirts, waren braungebrannt und sahen tatsächlich aus, als wäre das Foto aus einer Werbebroschüre über Glück am Meer geschnitten. Rike hatte es fotografiert, im letzten Sommer, als sie alle gerade frisch verliebt waren. Zwei schöne Menschen in der Abendsonne, auf diesem Foto konnte man nicht sehen, dass Maren glatt zehn Jahre älter war. Maren wandte ihren Blick wieder ab und holte Luft.