Ossowski, Leonie Espenlaub

PIPER

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97262-8

Juni 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2003

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

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1. KAPITEL

Sollte Billi später einmal von Lorenz gefragt werden, auf welche Weise sie Ariel kennengelernt habe, wird sie es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr wissen. Ihre Erinnerungen werden sich ineinander verschieben, und das Bild, das sie dann vor Augen hat, wird mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Jetzt ist das etwas anderes. Billi vergißt nichts, hat nichts vergessen und bringt auch nichts durcheinander.

Zum erstenmal sieht sie ihn auf dem Markt. Er sitzt in der Sonne am Brunnen, die Dreifaltigkeitskirche hinter sich, und hat eine Rose in der Hand. Das sieht ungewöhnlich aus. Billi fällt nicht nur die Rose in der Hand des jungen Mannes auf, sondern auch sein Haar. Schwarz wie Schuhwichse. Locken wie auf einem Puppenkopf hängen unordentlich in das weißhäutige Gesicht, aus dem sie Augen, schwarz wie die Haare, anlächeln. Der Mund, wenn auch etwas schief und mit viel zu roten Lippen, lächelt ebenfalls. Billi muß an Tomaten denken. Auch die Rose ist rot. T-Shirt, Hose, Socken und Schuhe sind wiederum schwarz. Um den Hals trägt er eine froschgrüne Kette, deren Perlen unregelmäßig sind und auf kein Material schließen lassen.

Billi hat den jungen Mann noch nie in Worms gesehen. Ein Typ wie der wäre ihr sofort aufgefallen. Hier kennt jeder jeden. Sie weiß nicht, warum, aber sie bleibt vor ihm stehen und starrt ihn an.

Hast du Rosen gern? fragt er und zeigt Zähne, weiß wie Kreide.

Billi nickt, ohne es zu wollen. Vom Obststand sehen ein paar Frauen neugierig herüber und grinsen sich vielsagend an.

Hier, sagt der junge Mann mit den Puppenjungenlokken, drückt ihr die Blume in die Hand, steht auf und geht weg, ohne sich umzusehen. Billi dreht die Rose zwischen den Fingern, sieht ihm nach und findet seinen Gang affig.

Die zweite Begegnung findet im Buchladen statt. Hier, in der Kämmererstraße, ist Billi seit dem Abschluß ihrer Buchhändlerlehre angestellt. Es ist noch früh, gerade erst Ladenöffnungszeit, als der Puppenjungenlockenkopf in der Tür steht. Eigentlich muß Billi Bücherkartons auspacken, die Bücher auszeichnen und einsortieren. Für Kundschaft ist um diese Zeit ihre Kollegin und Freundin Linda zuständig. Als sie zur Tür sieht, steigt ihr leichte Röte ins Gesicht. Alle können das sehen, die Chefin, Linda und der Puppenjungenlockenkopf. Der reißt seine schwarzen Augen pflaumengroß auf, staunt und sagt:

Hi Rosenfee, was machst du denn hier?

Billi schluckt, kann nicht antworten und nicht atmen. Wieso nennt er sie Rosenfee? Weiß er vielleicht, daß sie seine Rose mit der Blüte nach unten mit Tesafilm an ihren Spiegel im Badezimmer geklebt hat? Unmöglich. Nichts weiß er, kann gar nichts wissen. Billi bekommt wieder Luft, das Blut fließt zurück, nur ihre Stimme klingt rissig, als habe sie seit Tagen nichts getrunken.

Kann ich Ihnen behilflich sein? ist alles, was sie herausbringt. Linda, die den jungen Mann eigentlich bedienen müßte, schnieft hörbar durch die Nase und grinst.

Wie du willst, sagt sie ein wenig spöttisch, dann mußt du eben später auspacken, und geht mit wackelndem Po nach hinten. Es sind nur Bruchteile von Sekunden, aber die reichen dem Puppenjungenlockenkopf, um Lindas Gang nachzuahmen. Das ist zum Lachen. Nur Billi lacht nicht. Sie fragt auch nicht ein zweites Mal nach den Wünschen des Kunden. Billi muß, ob sie will oder nicht, an Lorenz denken. Nein, der würde sich bestimmt nicht so ohne weiteres über Linda lustig machen, und schon gar nicht würde Lorenz eine Buchhändlerin duzen, auch wenn er sie schon mal gesehen hat.

Also was ist, sagt der Puppenjungenlockenkopf, hast du Zeit für mich oder nicht?

Die Frage ist im ganzen Laden zu hören. Die Chefin guckt. Der Puppenjungenlockenkopf lacht, zeigt seine kreideweißen Zähne und hebt Schultern und Hände.

Natürlich. Bitte, was kann ich für Sie tun?

Ich suche alte türkische Märchen für Kinder, sagt er.

Billi führt ihn in die Kinderabteilung, zeigt ihm, was da ist, und das ist nicht viel. Das sind keine alten Märchen, sagt er ungeduldig, die kenn ich alle.

Billi geht zum Computer, sucht und nennt die Titel, die sie findet. Aber der Puppenjungenlockenkopf ist nicht zufrieden. Er will historische Märchen, sagt er, alles andere interessiere ihn nicht.

Ganz dicht steht er hinter ihr. Sie kann ihn riechen, riecht Leim, Farbe und Terpentin, kann aber auf seinem schwarzen T-Shirt und seiner schwarzen Hose keine Farbkleckse sehen.

Sind Sie Türke? fragt sie schließlich genervt.

Nein, Jude.

Oh, entschuldigen Sie, entfährt es Billi, und sie merkt, wie sie zum zweitenmal rot wird.

Wieso entschuldigst du dich, wenn ich dir sage, daß ich Jude bin?

Sie gibt keine Antwort, weiß keine und vertippt sich obendrein im Computer. Wenn sie weiter suchen wollte, müßte sie wieder von vorn anfangen.

Laß es, sagt er, ich geh ins Antiquariat nach Heidelberg. Vielleicht finde ich da, was ich suche.

Er hat seine Hand auf ihren Arm gelegt und dreht sie zu sich herum, wie Erwachsene Kinder zu sich herumdrehen, wenn sie ihnen etwas Wichtiges mitteilen wollen.

Ich heiße Ariel und wohne in der Judengasse. Wenn du Lust hast, Rosenfee, kannst du am Samstagnachmittag zusehen, wie ich den Türkenkindern auf dem Platz vor der Synagoge mit meinen Marionetten Märchen vorspiele.

Mehr sagt er nicht, wartet auch auf keine Antwort, sondern geht ohne Abschied, als gebe es sie gar nicht. Billi hätte ihm gern etwas nachgerufen, aber es fällt ihr nichts ein. Sie ist wütend und ärgert sich, daß sie diesen Ariel nicht lieber ihrer Kollegin überlassen hat. Als sie mit einem Messer die Kartons aufreißt, schneidet sie sich in den Finger und beschmiert eins der Bücher mit Blut, und die Chefin sagt: Können Sie nicht aufpassen.

Drei Tage später ist Samstag. Die Sonne scheint, und es ist für den Monat April zu warm. Wer still im Park sitzt, kann hören, wie die Knospen der Kastanien schmatzend aufplatzen. Billi sitzt nicht im Park. Sie ist auf dem Weg in die Judengasse im Norden der Altstadt. Normalerweise kommt sie hier nicht hin, höchstens mal bis zur Martinspforte. Rechts davon beginnt die Judengasse, die entlang der Stadtmauer bis zur Friesenspitze führt. Hier wohnen hauptsächlich Türken, Jugoslawen, Albaner, eben Ausländer, die in den engen, uralten und einfach renovierten Häusern ihr Unterkommen gefunden haben. Die Straße, mit Kopfsteinen gepflastert, ist schmal, die Bürgersteige nicht breiter als eine Armlänge zwingen den Fußgänger, in der Mitte zu gehen. Sonnenlicht gibt es hier nur am Spätnachmittag. Es riecht, wie es in der ganzen Stadt nicht riecht. Nach Wäsche, nach fremdartigen Gerichten, nach Gewürzen, Knoblauch, Katzenscheiße, vor allem aber nach Feuchtigkeit, die im Gemäuer sitzt. So alt wie die Häuser ist auch der Mief, der die Gasse bis zu den Dächern durchdringt. In der Mitte der Judengasse steht die Synagoge, die nach dem Krieg wiederaufgebaut wurde. Mehr weiß Billi nicht über dieses Viertel ihrer Stadt.

Schon von weitem hört sie Kinderlachen. Wie ein Schwall dringt es durch die Gasse, wird von den Häuserwänden zurückgeworfen und paßt so gar nicht zu dem Mief, der Billi in der Nase hängt und ihr leichte Übelkeit verursacht. Dem Lachen folgt Stille, dann eine Stimme, Ariels Stimme, und wieder das Lachen. Billi will nicht gesehen werden. Sie drückt sich in einen der Hauseingänge, gerade mal so nah an das Geschehen heran, daß sie Ariel sehen und seine Worte verstehen kann. Was für ein Bild. Zwanzig, vielleicht dreißig Kinder aller Altersstufen umringen ihn. Sie sitzen auf Steinen, Kissen und mitgebrachten Fußbänkchen. Einigen läuft der Rotz von der Nase in den offenen Mund, andere kauen an ihren Fingernägeln. Wieder andere wirken vor lauter Neugier und Aufmerksamkeit wie ausgestopft, unbeweglich und stumm, die Gesichter Ariel zugewandt.

Der sitzt auf einer der Treppenstufen vom Sonnenhaus, neben der Synagoge, in den Händen zwei Marionetten, groß wie Säuglinge. Rechts bewegt er einen finsteren Piraten, links eine Prinzessin, lieblich und zart, wie man sie sich schöner nicht vorstellen kann. Sie weint, weil der Pirat sie vom Schiff des Königs geraubt hat und als Geisel bei sich behält. Der König, so schreit der Pirat über den Platz hinweg, der das Meer darstellt, soll nicht nur sein Schiff dem Piraten übergeben, sondern auch sein Reich, sonst würde der König seine Tochter nie wiedersehen. Der Pirat droht, springt auf und ab und hält der Prinzessin zum Entsetzen der Kinder eine Pistole an den Kopf.

Nicht schießen, schreit ein kleiner Junge, und Ariel nickt. Hängt den Piraten an ein dünnes Seil, das er über sich gespannt hat, und nimmt den König von der Stange, an der eine Figur neben der anderen aufgereiht hängt. Der König ist alt, hat einen weißen Bart, weiße Haare, auf denen eine goldene Krone sitzt. Er hebt die Hände zum Mund und ruft zurück, daß der Pirat alles haben könne, wenn er nur die Prinzessin wieder freilasse.

Ariels Stimme, mit der er eben noch gewaltig und drohend den Piraten sprechen ließ, ist plötzlich gebrechlich wie die eines alten Mannes. Billi ist fasziniert, achtet nicht auf ihr Versteck, sieht nur Ariels Hände, die geschickt und blitzschnell die Fäden bewegen. Sie beugt sich weit vor und hört wie die Kinder den Worten des Königs zu. Und während der alte Mann mit der Krone auf dem Kopf fast auf den Knien liegt, auf alles, was er hat, verzichtet, nur um seine Tochter wieder in die Arme schließen zu können, springt ein Prinz von der Stange. Er sieht Ariel geradezu lächerlich ähnlich, hat schwarze Locken, auf denen ein winziges Käppchen sitzt. Auch Ariel hat so eins auf dem Kopf. Es ist aus weißer Seide und mit silbernen Fäden bestickt. Weder die Kinder noch Billi zweifeln daran, daß es sich hier um einen Prinzen handelt. Denn er hat ein Schwert in der Hand, mit dem er den Piraten hinterrücks erdolcht, und alles ist gut. Die Kinder klatschen und rufen nach mehr.

Da setzt sich Ariel den Prinzen auf die eigene Schulter, läßt ihn zu Billi sehen und ruft: Hi Rosenfee, da bist du ja, komm her und spiel mit.

Auf einen Ruck drehen sich alle Kinder um und starren sie an. Der Prinz läßt sein Schwert fallen und winkt ihr zu.

Kommst du? fragt er, und Ariel lacht.

Billi kommt nicht, schüttelt den Kopf und läuft davon, während die Kinder hinter ihr herschreien, sie soll bleiben, der Prinz wolle es so. Je schneller sie rennt, um so lauter dröhnt seine Frage in ihren Ohren, obwohl sie schon längst viel zu weit weg ist. Erst als sie sich auf der Kämmererstraße befindet, hört der Spuk auf. Sie geht wieder normal und hört weder die Stimme des Prinzen noch die von Ariel. Sie sieht auf die Uhr. Höchste Zeit für Lorenz. Pünktlich, wie er ist, wird er schon ungeduldig auf sie warten.

Lorenz ist das ganze Gegenteil von Ariel. Sie weiß selbst nicht so genau, warum sie die beiden plötzlich miteinander vergleicht. Allein äußerlich haben sie nichts miteinander gemein. Lorenz ist groß und breitschultrig, Ariel eher klein und schmal. Die Augen von Lorenz sind blau, seine Haare blond, auch die Wimpern und Brauen. Wenn er lacht, ist auf seiner linken Wange ein Grübchen zu sehen, das Billi von Anfang an süß fand, wie sie sagt. Weil Lorenz mehr zur Ernsthaftigkeit neigt, liebt er Billis Heiterkeit. Dann kann es passieren, daß er sie plötzlich, egal, wo sie sind, hochhebt und küßt und sagt, sie sei das Liebste, was es für ihn auf der Welt gebe.

Lorenz ist Tierarzt und assistiert seit einem Jahr dem alten Dr. Seiters, dessen Praxis er in absehbarer Zeit übernehmen soll.

Billi kennt Lorenz seit der gemeinsamen Tanzstunde. Er war und ist ein schlechter Tänzer, konnte sich nie die Schritte merken und war dafür bekannt, den Mädchen auf den Füßen herumzutreten. Besonders schlimm war es, wenn ein Walzer angesagt war, vom Tango ganz zu schweigen. Bei Damenwahl war er immer der letzte, der aufgefordert wurde, und meistens entschuldigte er sich schon, bevor es überhaupt losging.

Warum gibst du’s nicht auf? hatte Billi ihn einmal gefragt und zur Antwort bekommen, daß es nicht seine Art sei, aufzugeben. Dabei hatte er gelacht, und ihr war sein Grübchen aufgefallen, in das sie, warum, wußte sie nicht, ihren Finger legte und nicht so schnell wieder wegnahm. Darauf war er knallrot geworden und erst recht aus dem Takt gekommen. Sie mochte Lorenz, auch wenn sie nicht gern mit ihm tanzte. Aber sie ging gern neben ihm her und hätte sich sicherlich von ihm küssen lassen, wenn er es gewollt hätte. Beim Abschlußball fiel er ihr per Los als Partner zu, und ihre zum Kleid passenden hellen Schuhe waren am Ende des Festes schwarz.

Danach sahen sie sich jahrelang nicht mehr. Sie machte ihre Buchhändlerlehre in Mannheim, er studierte in Hannover Veterinärmedizin. Sie begegneten sich erst wieder, als Billi eines Tages in die Tierarztpraxis von Dr. Seiters kam. Auf dem Weg zur Arbeit sah sie auf einer dichtbefahrenen Straße eine Ente, die verstört hin und her flatterte, bis sie schließlich von einem Auto erwischt wurde. Federn kreiselten durch die Luft, und das Tier schrie herzzerreißend, lag auf der Seite und strampelte mit den Beinen. Blut war nicht zu sehen. Ohne auf die eigene Gefahr Rücksicht zu nehmen, lief Billi auf die Straße und hob die Ente auf. Autos hupten, bremsten, die Fahrer fluchten, und Billi konnte von Glück sagen, daß ihr nichts passiert war. Die Ente lag jetzt ganz ruhig in ihrem Arm. Nur aus dem geöffneten Schnabel kamen hin und wieder ein paar Krächztöne, die auf Schmerzen schließen ließen.

Ich bring dich zum Doktor, sagte Billi und lief, so schnell sie konnte, in die Praxis von Doktor Seiters, die nicht weit vom Dom in der Kranzbühlerstraße lag. Hier war sie schon ein paarmal mit der Katze ihrer Tante gewesen und kannte sich aus.

Eine Ente, staunte der Doktor, wo kommt denn die her?

In Worms und Umgebung gibt es weder Seen noch Teiche. Als einziges Gewässer zieht der Rhein an der Stadt vorbei. Enten hingegen leben lieber auf Binnengewässern, aber wer weiß.

Lorenz kann sich um den Vogel kümmern, sagte Doktor Seiters und schickte Billi mit der immer noch krächzenden Ente in den gegenüberliegenden Raum. Lorenz starrte sie nur ein paar Sekunden an, dann nahm er ihr das Tier aus dem Arm und legte es auf den Tisch. Seine Finger glitten sanft unter die Federn und tasteten den Körper ab, die Flügel, die Hinterbeine, die Füße.

Sie hat innere Verletzungen, sagte er und streichelte sanft den Entenkopf, da kann ich nichts mehr machen.

Als habe sie ihr Todesurteil gehört, zogen sich ihre winzigen Augen zusammen, der Schnabel klappte zu, und der Kopf fiel seitlich auf den Tisch. Die Ente war tot.

Willst du sie mitnehmen? fragte Lorenz.

Nein, natürlich nicht. Sie gehört mir doch nicht. Ich habe sie nur zu retten versucht, weil sie von einem Auto angefahren wurde.

Sie standen sich gegenüber, die tote Ente zwischen sich, und einer sah den anderen an. Billi fand, daß Lorenz’ Schultern breiter geworden waren und sein Haar ein wenig lichter. Aber sein Gesicht war immer noch so rund wie früher, seine Augen so blau wie aus dem Tuschkasten, und auch sein Lächeln zauberte nach wie vor das Grübchen auf seine linke Wange. Alles an ihm war ihr vertraut. Er roch sogar noch wie früher. Obwohl er jetzt Tierarzt war und einen weißen Kittel trug.

Und Lorenz? Für ihn hatte sich auch Billi nicht verändert. Klein und drahtig stand sie vor ihm, das Gesicht voller Sommersprossen, die Haare, rötlich und unordentlich, hingen ihr wie eh und je ins Gesicht. Ein Eckzahn tanzte aus der sonst ebenmäßigen Reihe und stand ein bißchen vor. Der einzige Unterschied zu früher war, daß sie sich jetzt schminkte. Nicht viel, aber so geschickt, daß ihre an sich kleinen Augen doppelt so groß wirkten.

Du bist sehr hübsch, sagte Lorenz versonnen und nickte dazu.

Dann nahm er die Ente, steckte sie in eine Plastiktüte und warf sie in eine Metalltonne. Als er sich umdrehte, legte Billi ihren Zeigefinger auf sein Grübchen.

Wollen wir tanzen gehen? fragte sie.

Nein, sagte Lorenz, nicht tanzen. Aber einen Wein will ich mit dir trinken und, wenn es geht, zwei.

Von da an sahen sie sich öfter, mochten es, zusammenzusein, und stellten mit der Zeit fest, daß sie sich liebten. Billi lächelte, wenn auch stumm, wenn Lorenz hin und wieder vom Heiraten sprach. Es gab niemanden auf der Welt, dem sie mehr vertraute als Lorenz und in dessen Nähe sie sich sicherer fühlte.

Billi sieht auf die Uhr und weiß, daß nicht nur Lorenz auf sie wartet, sondern auch die Tante. Eigentlich wartet die Tante immer, kommt aus der Küche, wenn Billi die Wohnung betritt, und fragt, egal um welche Tageszeit es sich handelt: Hast du Hunger? Und dann bietet sie an, was sie hat, Suppe, Braten, Kuchen, Dessert, Brot, Wurst und Käse. Meistens hat Billi Hunger, setzt sich in die Küche und verschlingt alles, was die Tante ihr auftischt. Es schmeckt immer. Während sie kaut und schluckt, spürt, wie der Magen sich füllt, der Hosen- oder Rockbund eng wird, redet die Tante. Sie fängt jeden ihrer Sätze mit früher oder zu meiner Zeit an. Ihre Jugend und die Zeit während des Krieges sind für sie der Maßstab aller Dinge. Die Tante leidet unter Einsamkeit, hat weder Mann noch Kinder und ist froh, daß Billi bei ihr wohnt. Für das Zimmer nimmt sie eine geringe Miete und für das Essen gar nichts.

Früher, sagt sie, früher war das in unserer Familie auch so üblich.

Billis Eltern leben auf dem Land, zu weit weg, um jeden Tag nach Worms zur Arbeit zu fahren. Die Tante, weit über Siebzig, ist klein, dick, hat eine krause Dauerwelle im dünnen Haar und trägt im Sommer ärmellose Kleiderschürzen.

Endlich kommst du, sagt sie, als Billi die Wohnung betritt, hast du Hunger?

Nein, sagt Billi, ich bin mit Lorenz verabredet.

Deswegen kannst du doch vorher etwas essen.

Kann ich nicht, er wartet schon.

Zu meiner Zeit, sagt die Tante, war man für jeden Bissen dankbar, den man bekam.

Ich weiß, antwortet Billi und gibt der Tante einen Kuß auf die rosigen Wangen, aber es ist schon spät, und ich muß mich noch umziehen.

Zu meiner Zeit …, sagt die Tante, und Billi, schon zwischen Tür und Angel, ergänzt den Satz mit einem Lachen, zu deiner Zeit zog man sich am Tag nicht um.

Obwohl es für einen erwachsenen Mann ungewöhnlich ist, wohnt Lorenz noch bei seiner Mutter. Das heißt, er hat in ihrem Haus eine kleine Parterrewohnung. Zimmer mit Kochnische, Bad und separatem Eingang. Das Haus, gegenüber dem Festhaus gelegen mit Blick auf die westlichen Türme des Doms, hatte der Vater, damals Chefarzt im Krankenhaus, kurz vor seinem Tod gekauft. Die Mutter, auch heute noch Stationsschwester in der Chirurgie, hatte es sich gewünscht. Ihre Vorstellung war, den Beruf an den Nagel zu hängen und viele Kinder zu haben. Aber nach Lorenz’ Geburt wurde sie nicht mehr schwanger, und als der Junge fünfzehn Jahre alt war, starb Jakob durch einen Motorradunfall. Lange lebten Mutter und Sohn in dem für sie viel zu großen Haus, bis die Mutter sich dazu durchringen konnte, die obere Etage zu vermieten. Schon wegen der Kosten war das nötig. Trotz der ihr zustehenden Witwenpension und ihres Schwesterngehalts konnte sie sich einen so großen Luxus nicht leisten, zumal sie mit der Ausbildung von Lorenz zu rechnen hatte.

Die beiden haben ein gutes Verhältnis, wenn auch kein besonders inniges. Das wiederum liegt an Lorenz’ enger Beziehung zu den Großeltern, die es ablehnen, mit ihrer Tochter Ines auch nur ein Wort zu wechseln. Aber davon später.

Jetzt denkt Lorenz an die Zukunft. Er hat Pläne, die er mit Billi besprechen will. Wie immer ist sie unpünktlich, läßt ihn warten und strapaziert seine Geduld. Er läuft mit einem in Geschenkpapier eingewickelten Päckchen unterm Arm vor dem Haus hin und her, bis er Billis rötlichen Haarschopf am Lutherring aufleuchten sieht.

Na endlich, sagt er, na endlich.

Billi entschuldigt sich, erzählt irgend etwas von der Tante, aber kein Wort von Ariel. Sie küssen sich flüchtig, bevor sie ins Auto steigen. Billi möchte wissen, was Lorenz unterm Arm trägt und wohin er mit ihr fahren will.

Eine Überraschung, sagt er und läßt den Motor an.

Sie fahren am Krankenhaus vorbei und wieder hinein in die Altstadt bis in die Kranzbühlerstraße.

In die Praxis, mault Billi, was soll ich denn da?

Lorenz gibt keine Antwort, nimmt das Päckchen und klingelt bei Doktor Seiters. Der gibt ihm einen Schlüssel, nickt Billi zu und sagt, Lorenz wisse ja Bescheid.

Worüber? Sie sieht von einem zum anderen und versteht das Lächeln der Männer nicht, mit dem sie sich über ihren Kopf hinweg verständigen.

Ich will wissen, was los ist, sagt Billi. Dabei schiebt sie die Lippen auseinander, daß der vorstehende Eckzahn zu sehen ist und im Sonnenlicht schimmert. Sie ist wütend, mag es nicht, Knall auf Fall überrumpelt zu werden, und weigert sich, Lorenz die Treppen hoch zu folgen.

Du hast null Vertrauen, sagt Lorenz und bleibt mitten auf den Stufen stehen. Seine langen Arme hängen plötzlich wie leblos von seinen Schultern herunter, und sein Mund ist ganz schmal. Er sieht, so wie er da auf der Treppe steht, derart traurig aus, daß Billi ihn unverhofft umarmt und auf den Mund küßt.

Ich mein’s ja nicht so, sagt sie und küßt ihn noch einmal.

Das wirkt. Lorenz hebt sie wie eine Puppe hoch, trägt sie die letzten Stufen hinauf und stellt sie erst wieder vor einer Wohnungstür auf die Füße.

Schließ auf, sagt er und gibt ihr die Schlüssel.

Die Tür springt auf, und Billi steht in einer leeren, renovierungsbedürftigen Dreieinhalbzimmerwohnung mit Küche und Bad. Durch die trüben, nach Westen liegenden Fenster scheint Sonne; die offenen Türen werfen Schatten auf den Fußboden, als stünden hier schon Möbel. Im Flur bemerkt sie eine vom Vorbesitzer zurückgelassene schiefe Garderobe, an der noch eine Mütze hängt. Auf dem kleinen Balkon steht ein Vogelhäuschen, in dem zwei Spatzen herumhüpfen.

Und? fragt Billi, die sich längst ihren Teil denkt, warum zeigst du mir diese Wohnung?

Weil das unsere wird, sagt Lorenz.

Und da er Widerspruch fürchtet, Fragen, die er nicht beantworten will, nimmt er Billi in die Arme und führt sie von einem Raum in den anderen, ins Bad und in die Küche und wieder zurück. Dabei redet er ohne Punkt und Komma, was sonst nicht seine Art ist, und hält Billi fest, als fürchte er, sie könne auf und davon laufen. Dabei schleudert er seine Sätze hervor, spuckt die einzelnen Wörter wie Kirschkerne aus.

Ich kann die Praxis übernehmen. Dr. Seiters will sie verkaufen. Er will sich zur Ruhe setzen. Ich soll mich bald entschließen und kann hier zur Miete wohnen. Er will nicht viel Geld, wenn ich alles selbst renoviere.

Endlich macht er eine Pause, läßt Billi los, sieht sie mit seinen tuschkastenblauen Augen an und fragt: Willst du mit mir zusammen hier wohnen?

Billi weiß nicht, was sie antworten soll, ist nicht dagegen, aber auch nicht unbedingt dafür. Aus unerfindlichen Gründen muß sie an Ariel denken und sieht ihn für Bruchteile von Sekunden mit seinen Marionetten auf dem Platz vor der Synagoge sitzen. Um nicht ja und nicht nein sagen zu müssen, streichelt sie Lorenz und meint: Die Überraschung ist dir gelungen.

Lorenz nimmt ihre Worte für eine Zusage. Er strahlt und wirkt so erleichtert, daß Billi aller Mut verlorengeht, ihm zu widersprechen oder sich auch nur Bedenkzeit geben zu lassen. Sie murmelt nur etwas von der Tante, die sie nicht gern allein läßt und die gefragt werden muß. Aber Lorenz winkt ab. Die Tante ist ihm ziemlich schnuppe. Schließlich sind Billi und er erwachsene Menschen, die eine gemeinsame Zukunft haben, und die gilt es jetzt aufzubauen.

Wie selbstsicher er das sagt, was für ein Vertrauen er in ihre Liebe hat, denkt Billi und muß schlucken. Auch wenn sie wollte, könnte sie im Augenblick keine Zweifel anmelden. Unmöglich, ihm sein Glücksgefühl zu nehmen. So etwas bringt sie nicht fertig, lieber schweigt sie und hört zu, wie Lorenz die Wohnung für sie beide aufteilt.

Das hintere Zimmer, zum Hof und nach Osten hinaus, das sollte ihr gemeinsames Schlafzimmer werden, das mittlere das Wohnzimmer und das daneben mit Blick auf die Straße und die Türme des Doms, das sollte ihr Zimmer werden.

Ich habe ja meinen Arbeitsplatz unten in der Praxis, ich brauche in unserer Wohnung kein Zimmer für mich. Und während er das sagt, packt er das Päckchen aus, das er die ganze Zeit unter dem Arm an sich gepreßt hatte.

Dreh dich mal um, sagt er. Und Billi dreht sich gehorsam um, während er umständlich das blaue Einwickelpapier glättet, auf den Boden legt und sein Geschenk darauf plaziert.

Jetzt kannst du gucken, sagt er und lächelt wie ein Kind, dem etwas Besonderes gelungen ist. Auf dem blauen Papier, mitten im Zimmer, schwimmt eine Ente, lebensgroß aus Holz geschnitzt und in den Farben bemalt wie das verletzte Tier, mit dem Billi damals in der Praxis erschienen war.

Die wird nicht sterben, sagt Lorenz, die soll hier dein Glücksbringer sein.

Die Ente sieht derart echt aus, daß man auf den ersten Blick annehmen könnte, sie schwimme tatsächlich auf einer blauen Pfütze.

Wie schön, sagt Billi, wo hast du die her?

Sie ist mir zugeflogen, antwortet Lorenz und breitet die Arme aus, um Billi an sich zu ziehen und sie zu küssen.

Freitagabend. Das ist der Tag, an dem Mutter und Sohn gemeinsam zu Abend essen. Ines hat das vor Jahr und Tag eingeführt und zur Tradition gemacht. Auch wenn Lorenz während seiner Studienzeit an einem Freitag in Worms war, gehörte der Abend der Mutter. Dann kochte Ines die Lieblingsgerichte ihres Sohnes. Sie erzählten sich, was sie erlebt hatten, und besprachen, was besprochen werden mußte.

Heute gibt es ein Curryhuhn mit Mandeln und kleinen Apfelstücken in der Soße. Dazu Reis und Salat. Lorenz hat Hunger. Während er ißt, überlegt er, wie er sein Anliegen bei der Mutter vorbringen soll. Einfach ist das nicht. Hin und wieder betrachtet er sie aus den Augenwinkeln, um zu sehen, in welcher Stimmung sie sich befindet, denn danach will er sich richten. Sie scheint vergnügt. Auf ihrem runden, ein wenig blassen Gesicht mit dem rotgeschminkten Mund liegt ein Lächeln. Hübsch sieht sie aus, und jünger, als sie ist, obwohl ihre dunklen Haare von unendlich vielen Silberfäden durchzogen sind. An ihren Ohren stecken große silberne Clips, die ihrer Meinung nach das Gesicht schmaler machen. Wenn Lorenz sie so vor sich sieht, wundert er sich, warum sie nach des Vaters Tod nie wieder einen Partner gefunden hat.

Als er sie einmal danach gefragt hat, antwortete sie, daß sie nach Jakob keinen Mann mehr lieben könne und wolle. Ein weiteres Mal kam das Thema zwischen ihnen nicht zur Sprache. Ines wünschte es nicht.

Das Huhn ist aufgegessen. Bisher haben sie sich nur Nebensächlichkeiten mitgeteilt. Ines berichtete aus dem Krankenhaus und Lorenz aus seiner Praxis. Jetzt stellt sie das Dessert auf den Tisch.

Iß mein Junge, ich hoffe, es schmeckt.

Mama, sagt Lorenz, ich muß mit dir reden.

Sie nickt, und er fährt langsam und bedächtig fort zu erzählen, daß Doktor Seiters in den Ruhestand treten und ihm die Praxis verkaufen will. Wohlgemerkt nur die Praxis, nicht das ganze Haus. Er könne sogar die Wohnung über der Praxis mieten, um mit Billi zusammenzuziehen.

Du willst hier weg?

Ja, das siehst du doch hoffentlich ein.

Und wie willst du die Praxis bezahlen?

Sie ist nicht so teuer. Aber Sinn hat es für mich nur, wenn ich neue Geräte kaufe. Der Röntgenapparat ist uralt, ich brauche ein Ultraschallgerät und noch einige Dinge, um Operationen durchzuführen, wenn ich die Praxis so führen will, wie ich das möchte. Das heißt, ich brauche alles zusammen und über den Daumen gepeilt an die zweihunderttausend Euro, wahrscheinlich sogar mehr.

Großer Gott, sagt Ines, woher willst du die denn nehmen?

Ihre Stimme wird dünn, und das Lächeln fällt ihr von einer Sekunde zur anderen aus dem Gesicht.

Du glaubst doch nicht, daß ich …?

Doch Mama, Lorenz fällt ihr ins Wort, ehrlich gestanden hoffe ich, daß du eine Hypothek auf das Haus aufnimmst.

Jetzt ist es raus. Erwartungsvoll sieht er sie an, hält auch ihren Blick aus, der allerdings nichts Gutes verrät.

Du weißt, sagt sie, daß wir bereits eine Hypothek auf das Haus aufgenommen haben, um den Umbau im zweiten Stock zu finanzieren. Ohne Bad, Toilette und eigenen Eingang hätte ich nicht vermieten können. Mit der Miete zahle ich Zinsen und Hypothek.

Eben, Lorenz nickt, da können wir doch eine zweite Hypothek auf Vaters Haus aufnehmen, und ich zahle Zinsen und Hypothek. Mit der Bank kann ich reden, die Villa ist das wert.

Er hat es zu fordernd gesagt, das weiß er sofort. Er hat das Haus auch Vaters Haus genannt, womit er durchblicken ließ, daß es auch ihm gehört. Das war nicht undiplomatisch. Ines ist aufgestanden, räumt ab und klappert ungemütlich laut mit dem Geschirr. Plötzlich sieht sie gar nicht mehr so jung aus. Um ihren Mund graben sich Falten. Lorenz weiß, daß sich mit der Mutter schlecht über Geld reden läßt. Jetzt zieht sie die Unterlippe über die Zähne, fährt mit der Zungenspitze hin und her und schüttelt den Kopf. Ganz still ist es plötzlich zwischen ihnen. Das Geschirr ist in die Spülmaschine geräumt, und es gibt nichts mehr für Ines zu tun. Sie sieht aus dem Fenster auf die Türme des Doms und glaubt Jakob sagen zu hören, sie solle sich nicht verschulden, auch nicht, um dem Sohn zu helfen. Der Geruch des Curryhuhns hängt zum Greifen schwer in der Luft und löst bei Lorenz Unbehagen aus. Ihm wird auf einmal bewußt, daß diese Freitagabende etwas Zwanghaftes haben und daß er viel lieber mit Billi zusammen wäre. Eine Meinung darüber, daß er ausziehen und mit Billi zusammenwohnen will, hat die Mutter bisher nicht geäußert. Sie scheint nur an das Geld zu denken, das er von ihr haben möchte.

Von den Ängsten, die sie jagen, hat er keine Ahnung. Ängste, die sich nach dem Tod von Jakob eingestellt haben, Ängste, zu verlieren, was sie von Jakob noch besaß, den Sohn und das Haus. Wenn Lorenz auszieht, würde er sie mit der Zeit vergessen, würde sich mehr um Billi kümmern als um sie, würde heiraten, Kinder kriegen, eine eigene Familie haben. Bliebe ihr das Haus und der Garten, deren Bäume, Sträucher bis hin zu den Rosen voller Erinnerungen an Jakob stecken. Hier kann sie ihn sich zurückholen, hier ist alles mit ihm verbunden, hier kann sie noch immer mit ihm leben. Ohne das Haus, ohne die Erinnerungen an Jakob wäre sie nicht mehr lebensfähig. Eine zweite Hypothek bedeutet für Ines also Gefahr. Was ist, wenn Lorenz plötzlich die Zinsen nicht mehr zahlen kann? Wenn seine Praxis nicht floriert? Wenn er krank wird? Gar einen Unfall wie Jakob hat? Ines spürt, wie ihre Knie zittern. Am liebsten würde sie weinen und Lorenz anflehen, alles beim alten zu belassen. Nur würde er sie nicht verstehen und behaupten, daß sie eine schlechte Mutter sei, eine, der das eigene Hemd näher ist als der Sohn. Also nimmt sie sich zusammen, dreht sich vom Fenster weg zu ihm um und sagt: die Hälfte.

Was heißt die Hälfte?

Das heißt, daß ich so viel auf meinem Sparkonto habe, und darüber kannst du verfügen.

Mama, stöhnt Lorenz, du sollst mir nicht dein Gespartes geben, du sollst eine Hypothek auf das Haus aufnehmen. Das kostet dich keinen Pfennig. Ich zahl die Zinsen und auch die Hypothek ab, versteh das doch. Abgesehen davon, daß mir hunderttausend nichts nützen, ich brauche das Doppelte, wenn nicht mehr.

Tut mir leid, sagt Ines und wendet sich wieder dem Fenster zu. Sie muß sich ein wenig abstützen. Es könnte sein, daß ihr schlecht wird. Ihr Herz rast, bleibt plötzlich stehen, rast weiter und trommelt wie ein Maschinengewehr in der Brust.

Ist das dein letztes Wort? fragt Lorenz. Ines gelingt es gerade noch ein Ja hervorzuwürgen. Dann hört sie, wie Lorenz aufsteht und seinen Stuhl unerträglich laut unter den Tisch schiebt.

Wie du meinst, sagt er scharf, dann werde ich eben die Großeltern bitten. Großvater hilft mir bestimmt.

Nein, schreit Ines, das tust du nicht.

Aber da ist Lorenz schon aus der Tür, und ehe sie ihm nachlaufen kann, sitzt er in seinem Auto und fährt davon.

Am folgenden Tag fährt er nach Hofheim, wo die Großeltern wohnen. Erst hat er überlegt, ob er Billi mitnehmen soll, entschließt sich dann aber, allein zu fahren.

Nachdem er die Rheinbrücke überquert hat, biegt er links in die Landstraße nach Hofheim, ein Ort, größer als ein Dorf, aber kleiner als eine Stadt und nur ein paar Kilometer von Worms entfernt. Die Straßen haben Namen, es gibt einen Bahnhof, eine Feuerwehr und ein Rathaus. Die meisten Einwohner arbeiten außerhalb, sind Pendler, die in Worms und der umliegenden Industrie ihr Brot verdienen. Bauern gibt es nur noch wenige. Der Großvater von Lorenz, Oskar Tamek, hatte Glück, daß sein Sohn Martin den Hof übernahm, als er aus Altersgründen nicht mehr in der Lage war, das Land selbst zu bewirtschaften. Nur zwei Haflingerstuten behielt er zu Zuchtzwecken, denn von allem wollte er sich nicht gleich trennen.

Jetzt lebt er mit seiner Frau Mia in dem zur Wohnung ausgebauten Stall, in dem Oskar Tamek ganz früher seine Schafe untergebracht hatte. Mit der Zeit hatte sich die Schafhaltung für ihn nicht mehr gelohnt, und er hatte mit der Pferdezucht begonnen. Und als Ines Erwin Schade heiratete, hatte er einen Kredit aufgenommen, um der Tochter ein eigenes Heim zu schaffen, dessen sie sich nicht zu schämen brauchte.

Wenn Lorenz nach Hofheim fährt, hat er noch immer ein seltsames Gefühl. Kaum fährt er in die schmale Straße, die anfangs rechts und links durch wildes, unwirtliches Gestrüpp führt, meint er, ein anderer zu werden und woanders zu sein. Für ihn hat Hofheim nichts mit Worms zu tun – und Worms nichts mit Hofheim. Am Ende des Gestrüpps schließen sich auf der Rheinseite die Wiesen an. Wiesen, auf denen verstreut Weiden, Pappeln und Laubbäume stehen, wie vom Himmel gefallen. Da ist weit und breit bis zum Fluß kein Tier und kein Mensch zu sehen. Noch heute wünscht sich Lorenz manchmal, auf den Wiesen, am Wasser entlang, bis ans Ende der Welt fahren zu können, vielleicht auch zu reiten oder zu fliegen.

Auf der anderen Seite der Landstraße liegen die Felder, eins neben dem anderen, mit Gemüse bepflanzt, Rüben und Kohl. Zur Erntezeit im Herbst leuchtet hier der Rotkohl blaulila, als wären riesengroße Teppiche über den schweren Boden gebreitet.

Der Onkel, den Lorenz nie mit Namen angeredet hat, ist ein mürrischer älterer Mann, der stets mißmutig seine Arbeit erledigt, nie lacht und jedem, soweit wie möglich, aus dem Wege geht. Der Großvater behauptet, Martin sei ein Eigenbrödler, den man in Ruhe lassen müsse, denn er fühle sich ständig vom Schicksal benachteiligt, während die Großmutter die Meinung vertritt, der Kern ihres Sohnes sei gut.

Kaum denkt Lorenz an die Großmutter, überfällt ihn Hunger, und er hört sie sagen: Komm, iß, mein Junge.

Dann schöpft sie Suppe aus einem Topf. Danach legt sie Fleisch, Gemüse und Kartoffeln auf seinen Teller und übergießt alles mit Soße.

Niemand kocht so gut wie Oma Mia, nirgendwo schmeckt es so wie bei ihr. Dann wird die Küche der Großeltern für Lorenz zum Kokon, in dem weder Mutter noch Vater einen Platz haben. Hier ist es warm, hier werden keine unnötigen Fragen gestellt, hier gibt es keine Trauer und keine Tränen. Alles steht da, wo es immer steht, Veränderungen gibt es nicht. Hinter dem Platz der Großmutter hängt im Eck unter der Decke Jesus Christus am Kreuz, die ausgebreiteten Arme ans Holz geschlagen.

Bei euch ist es schön, hat Lorenz als Kind immer gesagt, und er sagt es noch heute. Nur wenn Opa Oskar anfängt, vom Krieg zu erzählen und von der Gefangenschaft, aus der er erst 1948 nach Hause gekommen ist, hört für Lorenz die Gemütlichkeit auf.

Ich kenn die Geschichten schon, sagt Lorenz dann. Aber das nützt nichts. Opa Oskar läßt sich nicht den Mund verbieten und beginnt jedesmal mit derselben Geschichte.

Mein Freund, fängt er an, während Oma Mia abzuräumen beginnt, mein Freund, der in der Ukraine aus dem Hinterhalt erschossen wurde, lag mit zerborstenem Schädel und unkenntlichem Gesicht nur ein paar Meter von mir entfernt im Dreck und zuckte mit Armen und Beinen, bis er tot war. Danach macht Opa Oskar eine Pause, hat wohl das Bild des toten Freundes vor sich, und Lorenz hofft jedesmal, daß damit die Geschichte beendet sei. Aber weit gefehlt, Opa Oskar holt tief Luft und fährt fort.

Außer sich vor Wut und ohne an die eigene Gefahr zu denken, sei er aus seinem Versteck gesprungen, habe den Russen unter Aufbietung aller Kräfte überwältigt und zu seiner Einheit gebracht. Der Kerl sei kaum älter als sechzehn gewesen und habe, als es nun um die eigene Rübe ging, vor Angst geschlottert und sich in die Hosen geschissen.

Ich kenn das doch alles, sagt Lorenz dann, warum erzählst du das bloß immer wieder.

Weil man es nicht oft genug erzählen kann. Und schon ist er wieder in seiner Geschichte.

Es seien noch mehr Partisanen gefangengenommen worden, und wie es hieß, waren es alles ukrainische Juden, die erschossen werden sollten. Als er seinem Vorgesetzten Meldung gemacht habe, auf welche Weise sein Freund ums Leben gekommen sei, habe der Oberleutnant ihm in die Augen gesehen, auf den Partisanen gezeigt und gesagt: Wenn Sie wollen Tamek, dann gehört das Judenschwein Ihnen.

Darauf habe ich den Kerl vor mir hergetrieben, habe ihn in aller Ruhe ein Loch graben lassen und ihn dann auf die gleiche Weise abgeknallt, wie er es mit meinem Freund gemacht hat.

Und dann? hatte Lorenz gefragt, als er die Geschichte zum erstenmal hörte.

Dann ging es mir besser, hatte Opa Oskar geantwortet, ich konnte sogar die Nacht darauf schlafen.

Geschlafen hast du? Der war doch ein Junge, erst sechzehn.

Jawohl, geschlafen, denn ich habe mich an dem Scheißjuden, der meinen Kameraden und besten Freund so hinterhältig ermordet hat, rächen können.

Lorenz mag diese Geschichte nicht, hätte sie auch schon längst vergessen, wenn Opa Oskar sie nicht immer wieder neu erzählte. Schließlich hörte Lorenz einfach nicht mehr hin, half Oma Mia beim Abwasch und ließ den Großvater mit seiner Geschichte allein am Tisch sitzen.

Er ist alt, flüsterte dann Oma Mia, nimm so was nicht so ernst. Du wirst ihn auch nicht mehr ändern.

Lorenz ist in Hofheim angekommen. Er sieht auf die Uhr. Noch ist Mittagszeit, die Alten werden ihr Schläfchen machen. Da will er nicht stören und setzt sich auf die Bank vors Haus. Es ist ganz still. Der Onkel ist wohl auf dem Feld. Die Hühner dösen in der Sonne, und die beiden Haflingerstuten scheinen mit hängenden Köpfen dicht nebeneinander im Stehen zu schlafen.

Lorenz weiß nicht mehr genau, ob er fünf oder sechs Jahre alt war. Er weiß nur, daß er schon gelernt hatte, erwachsene Fremde zu siezen. Eines Tages war er weinend aus dem Kindergarten oder der Schule gekommen und hatte sich auch bis zum Abend, als der Vater aus der Klinik kam, nicht beruhigt. Der Trost der Mutter hatte nichts genützt. Sie hatte ihn festgehalten, gestreichelt und geküßt und schließlich unter Tränen geflüstert, daß sie ihm nicht helfen könne. Lorenz erinnert sich genau an die Tränen der Mutter, die, mit den seinen vermischt, große runde Flecken auf ihrer Bluse verursacht hatten.

Was ist hier los? fragte der Vater und schloß die Mutter zusammen mit ihm in seine Arme. Lorenz konnte nur mühsam sprechen. Die Schluchzer saßen in seinem Zwerchfell fest, von wo sie in Abständen von Sekunden hervorbrachen, seinen Körper durchschüttelten und ihn daran hinderten, zu sagen, was er sagen wollte.

Alle Kinder, brachte er mühsam hervor, haben eine Oma und einen Opa, nur ich nicht. Alle sagen, jeder hat Opas und Omas, manche haben sogar zwei. Warum habe ich keine?

Doch, antwortete der Vater nach einigem Zögern, du hast auch Großeltern, und wenn du willst, fahren wir morgen zusammen hin.

Kommst du mit, Mama?

Nein, sagte die Mutter und fing wieder an zu weinen, ich komme nicht mit.

Heute muß Lorenz zugeben, daß ihn die Tränen der Mutter damals nicht sonderlich beunruhigten. Die Tatsache, endlich Großeltern zu bekommen, regte ihn derart auf, daß er abends nicht ins Bett wollte. Er fragte und fragte und bekam nur die Antwort, daß er das alles Großmutter und Großvater selbst fragen solle.

Als ihm vor der Abfahrt seine Sonntagssachen angezogen wurden, beschwerte er sich nicht wie sonst, sondern wollte trotz des warmen Wetters auch sein kleines Jackett anziehen.

Die Großeltern wohnen auf dem Land, hieß es, da braucht man kein Jackett.

Aber Lorenz wollte schön aussehen und bürstete sich eigenhändig mit Wasser die Haare nach hinten. Erst dann stieg er ins Auto und fuhr mit dem Vater nach Hofheim. Der Vater ließ Lorenz vor dem Haus aus dem Auto, zeigte ihm, wo er hineingehen sollte, und sagte, daß er in zwei Stunden wieder hier warten würde. Er brachte ihn über die Straße, blieb noch so lange stehen, bis Lorenz den Hof betreten hatte, und fuhr wieder weg.

Der Vater hatte ihm gesagt, daß die Großeltern in dem kleinen Haus gegenüber von dem großen wohnten. Als er um die Hausecke kam, sah er eine alte Frau und einen alten Mann nebeneinander auf einer Bank sitzen. Sie starrten ihn merkwürdig an. Lorenz nahm allen Mut zusammen, machte eine kleine Verbeugung und fragte höflich: Sind Sie vielleicht meine Großeltern?

Die beiden antworteten nicht gleich, und Lorenz hatte Zeit, sie zu betrachten. Die Frau war klein und sehr dünn, auch die Beine, die unter ihrem Rock hervorsahen, und die gekreuzten Füße, an denen die Pantoffeln hingen, als wären sie an den Zehen festgewachsen. Ihr Gesicht wirkte auf Lorenz ein bißchen nackt. Der Mund war kaum zu sehen, und er konnte weder Wimpern noch Brauen erkennen. Ihre farblosen Augen steckten wie Glasmurmeln zwischen den Lidern. Die Haare waren nach hinten gekämmt, wo sie zusammengedreht irgendwo auf dem Hinterkopf festgemacht waren. Nichts an der Frau bewegte sich, auch nicht die Hände, die sie in ihrem Schoß gefaltet hielt, als würden sie sonst herunterfallen. Sie war ganz und gar grau und schwarz angezogen. Nur der Kragen, der um ihren dünnen Hals lag, war weiß.

Der ältere Mann sah gemütlicher aus. Sein Gesicht war faltiger als das der Frau, aber er zwinkerte Lorenz zu und hatte die Arme vor sich verschränkt. Statt Hausschuhen trug er kurze Stiefel unter grünen ausgeleierten Cordhosen. Auf seinem Kopf saß eine kleine abgewetzte Ledermütze, aus der rechts und links ein paar graue Haare hingen. Im Gegensatz zu der Frau bewegte der Alte wenigstens seine Lippen, wobei alle Falten in seinem Gesicht durcheinandergerieten, und fragte: Wer bist denn du?

Lorenz Reger.

Der alte Mann nahm die rechte Hand von seinem Stock und hielt sie Lorenz hin, der die seine vorsichtig hineinlegte.

Es stimmt, sagte er, ich bin dein Großvater, und das hier ist deine Großmutter.

Lorenz nickte ernst. Da sich die alte Frau noch immer nicht bewegte, mochte er ihr nicht die Hand geben. Er fürchtete sich ein bißchen vor ihr und hielt lieber Abstand.

Mia, sagte der Großvater, das ist dein Enkel. Freust du dich nicht, ihn zu sehen?

Darauf schien die Frau lebendig zu werden. Ihre Glasmurmelaugen zeigten Wärme. Sie lächelte, und Lorenz fand plötzlich, daß sie lieb aussah.