Meine Schuld – 14 – Was Frauen berichten: Schonungslos - Indiskret

Meine Schuld
– 14–

Was Frauen berichten: Schonungslos - Indiskret

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Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-892-7

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Geschichte 1

Frauenschicksal

Roman von Maja F. (32)

»Am Strand sah ich meinen toten Mann wieder.«

Ich dachte schon, ich würde den Verstand verlieren, als ich meinem toten Mann am Strand begegnete. Aber dieser Mann war keine Halluzination, er war aus Fleisch und Blut. Für seine Existenz musste es doch eine Erklärung geben!

Mein Anton war vor fünf Jahren bei einer Klettertour in den Alpen ums Leben gekommen. Er war ein leidenschaftlicher Bergsteiger gewesen. Wir wohnten damals in einem Ort in der Nähe von Garmisch. Anton hatte jede Möglichkeit genutzt, um seiner Leidenschaft zu frönen. Immer, wenn er zu einer Tour aufgebrochen war, hatte ich Angst um ihn gehabt. Aber Anton hatte sich sein Lieblingshobby nicht von mir ausreden lassen. Deshalb hatte ich ihn oft gebeten, wenigstens nicht allein zu gehen.

»Ich bin ein erfahrener Bergsteiger, Maja. Mir passiert schon nichts.« Mit diesen Worten versuchte er immer mich zu beruhigen.

Aber dann war es doch passiert. Anton hatte einen Fehler gemacht und war abgestürzt. Als man ihn fand, kam jede Hilfe zu spät. Gerade mal dreißig Jahre alt war er geworden.

Fast ein halbes Jahr hatte ich nach seinem tödlichen Unfall in einer psychiatrischen Klinik verbracht. Danach kehrte ich Bayern den Rücken. Ich war in Norddeutschland geboren. Also ging ich dorthin zurück. Ich wollte für den Rest meines Lebens nie mehr gezwungen sein, meinen Blick auf die Berge richten zu müssen.

*

Auf der Insel Rügen, wo eine Tante von mir lebte, fing ich noch einmal ganz von vorn an. Tante Nele war nicht mehr die Jüngste. Sie betrieb in Binz eine Urlauberpension. Sie war nie verheiratet gewesen und hatte auch keine Kinder. Ihre Bitte, sie bei der Arbeit zu unterstützen, war mir damals gerade recht gekommen. Ich hatte keine Sekunde gezögert und war zu ihr gezogen. Berufliche Erfahrung brachte ich mit. Ich war in einem Garmischer Hotel der gehobenen Klasse stellvertretende Chefin vom Housekeeping gewesen. Ich wusste, wie man dafür sorgt, dass sich die Urlauber in ihren lang ersehnten Ferien wohlfühlen.

Es war inzwischen über vier Jahre her, dass ich umgezogen war. Ich hatte mich in Binz prima eingelebt. Ich kam mit den Einheimischen gut zurecht. Obwohl ich nach der Arbeit ziemlich zurückgezogen lebte, hatte ich schnell einige Freundinnen gefunden. Von Männern hielt ich mich jedoch fern. Nach Antons Tod hatte ich zu viel durchmachen müssen. Ich hatte ganz einfach Angst davor, mich noch einmal zu verlieben.

Tante Nele wollte davon allerdings nichts hören. »Angst, Schmerz und auch der Tod gehören nun mal zum Leben dazu. Genau wie die Liebe und das Glück. Maja! Du bist erst Anfang dreißig. Du kannst eine neue Liebe finden und wieder glücklich werden. Du könntest Kinder bekommen und eine Familie gründen. Willst du darauf wirklich verzichten?«, lag sie mir wieder einmal in den Ohren.

»Ach, Tantchen! Wenn das alles nur so einfach wäre. Ich kann diese leidvolle Zeit nicht vergessen. Ich kann Anton nicht vergessen. Und ich glaube auch nicht, dass ich noch einmal einen Mann so lieben könnte wie ihn«, seufzte ich.

»Du sollst Anton ja auch nicht vergessen. Du wirst sein Andenken tief in deinem Herzen für immer bewahren. Aber das allein wärmt dich nicht in der Nacht. Du brauchst wieder jemanden, an den du dich kuscheln kannst. Bei dem du dich geborgen fühlst«, dozierte sie.

»Das musst du gerade sagen. Die Frau, die niemals geheiratet hat«, ereiferte ich mich.

»Das heißt aber nicht, dass ich nie geliebt habe. Und es bedeutet auch nicht, dass ich nicht weiß, wie schmerzvoll es ist, wenn sich der Traum vom Glück nicht erfüllt«, entgegnete sie.

Daraufhin sah ich sie mit großen Augen an. »Du warst verliebt? Wenn das so war, dann hast du aber ein riesiges Geheimnis daraus gemacht. Ich bin mir sicher, dass nicht mal Mama davon wusste. Warum nicht?«, wollte ich gespannt von ihr wissen.

»Weil die große Liebe meines Lebens eine Frau war«, erwiderte sie prompt.

»Wie bitte? Du… du warst in eine Frau verliebt?«, krächzte ich.

»Ja. Nur war damals die Zeit für gleichgeschlechtliche Liebe noch nicht reif. Bente und ich waren aber unsterblich ineinander verliebt. Wir verbrachten jede freie Minute zusammen. Lieben durften wir uns jedoch nur klammheimlich. Es ging sogar über einen längeren Zeitraum gut. Doch dann erwischte uns ihr Vater im Pferdestall. Er hat sie windelweich geprügelt und anschließend zu seiner Schwester nach Dänemark gebracht. Und mir hat er schlimme Dinge angedroht, bevor er mich von seinem Hof gejagt hat. Ich habe nicht mal den Versuch gewagt, Bente wiederzusehen, so viel Angst hatte ich vor ihrem Vater«, sprudelte es aus Tante Nele heraus.

Ich fühlte mich wie geplättet. Mit einer derartigen Offenbarung hätte ich nie und nimmer gerechnet.

»Ich konnte Bente nie vergessen. Sie hat mir alles bedeutet. Es hat ewig gedauert, bis der Schmerz über ihren Verlust nachließ. Viele Jahre später erhielt ich einen Brief von ihr. Sie lebte schon lange in Amerika, war verheiratet und hatte zwei Kinder zur Welt gebracht. Aber glücklich geworden war sie nicht. Sie warnte mich in ihrem Brief eindringlich davor, den gleichen Fehler zu begehen. Aber Männer spielten in meinem Leben einfach keine Rolle. Den Mut, mich öffentlich zu einer Frau zu bekennen, hätte ich nach so vielen Jahren sicher aufgebracht. Doch statt nach einer neuen Liebe zu suchen, hatte ich mich wie eine Auster verschlossen. Ich trauerte immer noch Bente nach. O Kleines! Das war genauso falsch wie ihre Hochzeit mit einem Mann. Wir beide haben unser Leben lang gelitten. Ich möchte nicht, dass es dir ebenso ergeht. Es ist noch nicht zu spät für dich, Maja. Du musst dich einfach nur für eine neue Liebe öffnen. Das ist die beste Medizin gegen Herzschmerz«, redete sie auf mich ein.

*

Nach dem Gespräch mit Tante Nele verließ ich völlig durcheinander das Haus. Ich brauchte frische Luft. Ich musste das eben Gehörte erst einmal verarbeiten. Und ich musste über mein eigenes Leben nachdenken!

Wie von selbst trugen mich meine Füße zum Strand. Ich rannte am Wasser entlang, ließ mir den Wind ins Gesicht blasen, powerte mich völlig aus. Irgendwann, als ich keine Kraft mehr zum Weiterlaufen besaß, sank ich in den Sand. Es war eisig kalt an diesem Tag. Aber für derartige Gefühle war kein Platz in meinem Inneren.

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich sehnte mich nach Anton. Und dann, wie durch einen Schleier, sah ich plötzlich ganz verschwommen einen Mann näherkommen. Er steuerte direkt auf mich zu. Offenbar war er durch mein lautes Weinen auf mich aufmerksam geworden. Ich drehte mich in die andere Richtung. Er sollte mich in Ruhe lassen. Ich konnte jetzt keine Gesellschaft gebrauchen.

»Hallo, geht es Ihnen gut?«, hörte ich ihn hinter meinem Rücken fragen.

»Ja. Gehen Sie weiter«, schluchzte ich.

»Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«, kam es von ihm zurück.

»Gehen Sie!«, fauchte ich.

»Okay. Ist ja schon gut«, sagte er.

Dann hörte ich, wie er im Sand davon stapfte. Um mich zu versichern, dass er auch wirklich verschwand, blickte ich ihm nach. Ich hatte mir die Tränen aus den Augen gewischt und sah jetzt klarer. Im selben Moment traf es mich auch schon wie ein Schlag.

Nicht nur die Gangart des Mannes irritierte mich. Auch seine Statur. Die breiten Schultern, die schmalen Hüften, die sportlich durchtrainierten Oberschenkel, die sich unter dem eng anliegenden Stoff seines Laufanzuges abzeichneten. Außerdem hatte der Mann schwarzes Haar, welches sich bis in seinen Nacken hinein ringelte. Für einen Augenblick erstarrte ich. Der Fremde hatte eine so große Ähnlichkeit mit Anton, dass es beängstigend war. Ich glaubte an eine Sinnestäuschung, zweifelte an meinem Verstand. Und doch…

»Anton«, kam es wie von selbst über meine Lippen.

Aber der Mann reagierte nicht. Meine Aufregung steigerte sich. Ich wusste nicht, ob ich wach war oder träumte. Ich kniff die Augen zusammen. Öffnete sie wieder. Er war noch da.

»Anton!«, stieß ich noch einmal fast hysterisch hervor.

»Meinen Sie mich? Ich heiße aber nicht Anton. Mein Name ist Paul«, hörte ich ihn sagen, während er sich zu mir umdrehte.

Im selben Moment durchzuckte mich ein heißer Blitz. In meinen Ohren begann es heftig zu rauschen. Und vor meinen Augen tanzten Sterne. Mir wurde übel. Es war genau wie damals, als mir die Männer von der Bergrettung mitteilten, dass mein Mann tödlich verunglückt war.

»Anton«, hauchte ich noch einmal. Dann wurde mir endgültig schwarz vor Augen.

*

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in Tante Neles Wohnzimmer auf der Couch. Sie hockte neben mir und hielt meine Hand. Hinter ihr erblickte ich – Anton! Sofort schloss ich wieder meine Augen. Hatte ich mich so sehr in meine Trauer hineingesteigert, dass ich wirklich wahnsinnig wurde?

»Ich danke Ihnen, dass Sie meine Nichte nach Hause gebracht haben, Herr…«

»Nennen Sie mich einfach Paul. Ich hasse Förmlichkeiten«, sagte er.

»Ähm… Paul. Ich glaube, es ist besser, wenn… Sie jetzt gehen«, stammelte Tante Nele.

»Entschuldigen Sie, Frau Hinrichs! Bevor ich gehe, hätte ich noch eine Frage. Ihre Nichte ist ohnmächtig geworden, als sie mein Gesicht erblickte. Und Ihnen ist bei meinem Anblick der Mund offen stehen geblieben. Können Sie mir das bitte erklären? Ich meine, ich sehe doch nicht gerade aus wie eine Bestie, oder?«, scherzte er.

»Nein, das nicht. Aber Sie haben eine fatale Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Mann meiner Nichte. Das hat sie wohl total aus der Bahn geworfen und auch mich einigermaßen schockiert«, erklärte Tante Nele.

Ich hörte zwar, was gesprochen wurde, war aber nicht imstande, meine Augen zu öffnen. Ich zitterte am ganzen Leib und spürte, wie sich ein neuer Weinkrampf ankündigte.

»Bitte gehen Sie, Paul! Meine Nichte braucht jetzt Ruhe«, legte Tante Nele resolut fest.

Die beiden verließen den Raum. Wenig später erschien unser Hausarzt, der mir ein Beruhigungsmittel spritzte. Danach schlief ich unverzüglich ein.

*

Du liebe Güte, Anton ist zurück!« Das waren am nächsten Morgen meine ersten Worte.

»Er ist nicht Anton«, erwiderte die Tante.

»Aber dieser Mann ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten«, begehrte ich auf.

»Das mag schon sein. Dennoch ist er nicht Anton. Dein Mann ist tot! Und du machst ihn nicht lebendig, wenn du jetzt auch noch einem Phantom nachjagst. Du musst endlich wieder ein normales Leben führen. Was glaubst du, weshalb ich dir meine Geschichte erzählt habe?«, bestürmte sie mich.

»Aber er ist doch kein Phantom. Ich habe ihn gesehen, seine Stimme gehört, ihn gefühlt. Er hat mich auf seinen Armen zu dir nach Hause getragen«, quengelte ich.

»Das ist ja alles richtig, Kleines. Trotz der frappierenden Ähnlichkeit ist dieser Mann nicht Anton. Er heißt Paul. Er ist Werbetexter, kommt aus Berlin und macht hier lediglich zwei Wochen Urlaub. Und das Wichtigste: Er hat in seinem Leben noch nie einen Berg bestiegen«, hob die Tante energisch hervor.

»Er ist ein sportlicher Typ, genau wie Anton«, warf ich stur ein.

»Auch das habe ich mit ihm geklärt. Er geht regelmäßig ins Fitnesscenter«, versetzte sie.

»Aber wie erklärst du dir, dass er Anton aufs Haar gleicht? Als ich ihm gestern ins Gesicht sah, dachte ich, dass ich den Verstand verliere. Das ist doch alles irre. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu«, sprudelte es aus mir hervor.

»O Maja! Dieser Paul … Man sagt, jeder Mensch hat irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger. Das ist die einzig logische Erklärung, die es für seine Ähnlichkeit mit Anton gibt«, tat Tante Nele die Angelegenheit ab.

Aber damit wollte ich mich auf keinen Fall zufriedengeben. Das alles konnte kein Zufall sein. Da hatten höhere Mächte ihre Finger im Spiel. Davon war ich überzeugt. Vielleicht gab es doch ein Leben nach dem Tod. Oder Gott hatte seinen grausamen Fehler eingesehen und Anton deshalb zu mir zurückgeschickt.

»Du weißt doch bestimmt, wo der Mann logiert. Ich will mit ihm sprechen«, brachte ich entschlossen hervor.

Nach allem, was geschehen war, konnte Tante Nele kaum von mir erwarten, dass ich einfach so zur Tagesordnung überging.

*

Hallo, Maja! Schön, dass es Ihnen besser geht«, sagte dieser Paul… Anton… wer auch immer, als ich ihm den Weg vertrat.

Ich war im richtigen Moment gekommen. Denn er verließ gerade das Haus. Keine Ahnung, was er vorhatte. Das interessierte mich nicht. Ich wollte nur Antworten auf meine Fragen von ihm haben.

»Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir?«, fauchte ich auch gleich los.

»Tut mir leid, dass ich Sie gestern dermaßen verwirrt habe. Ihre Tante erzählte mir, dass ich Ihrem verstorbenen Mann ähnlich sehe. Leider bin ich mir da keiner Schuld bewusst. Es muss ein Zufall sein«, gab er freundlich zurück.

»Sie ähneln meinem Mann nicht nur. Sie sind das Abziehbild von ihm. Und Sie laufen mir rein zufällig über den Weg. Das ist doch merkwürdig, finden Sie nicht? Wer hat Sie geschickt?«, fauchte ich erneut.

»Mich hat niemand geschickt. Wie ich schon sagte. Es tut mir leid, dass ich Sie so aus der Fassung bringe. Deshalb ist es wohl besser, wir gehen uns zukünftig aus dem Weg. Wenn Sie mich dann entschuldigen würden«, erwiderte er.

»Nein, ich entschuldige nicht! Ich will Ihren Ausweis sehen, will alles über Ihr bisheriges Leben wissen. Einen lückenlosen und vor allem logischen Bericht«, setzte ich ihm zu.

»Okay. Wenn Sie darauf bestehen. Ich fürchte nur, dass meine Vita nicht besonders interessant ist. Ich führe ein völlig unspektakuläres Leben«, räumte er ein.

»Ihren Ausweis!«, forderte ich mit Nachdruck.

Er händigte ihn mir widerstandslos aus. Mein Blick darauf ließ mich sofort erstarren. »Sie sind am selben Tag, in derselben Stadt wie mein Mann geboren. Und Sie gleichen ihm wie ein Ei dem anderen«, hauchte ich fassungslos. Nun war ich restlos überzeugt davon, dass höhere Mächte ihre Finger im Spiel hatten.

»Ich verstehe ja Ihren Kummer über den Tod Ihres Mannes. Aber ich habe nichts mit ihm zu tun. Ich bin kein Engel und auch kein Wiedergeborener. Ich glaube weder an Wunder noch an Zauberei oder gar an die Existenz von Gott. Ich mag Sie, Maja. Und ich würde Ihnen liebend gern helfen. Aber ich weiß nicht, wie ich das tun sollte«, bestürmte er mich.

»Aber es muss doch eine Erklärung für all das geben«, schluchzte ich.

»Vielleicht glauben Sie mir, wenn meine Eltern Ihnen bestätigen, dass ich nichts mit Ihrem Mann zu tun habe. Sie sind gerade für ein verlängertes Wochenende hier eingetroffen. Kommen Sie! Wir reden mit ihnen«, schlug Paul seufzend vor.

*

Nachdem er mich seinen Eltern vorgestellt und ihnen erklärt hatte, worum es ging, herrschte betretene Stille im Raum. Pauls Mutter warf ihrem Mann einen Blick zu, der einen eiskalten Schauer über meinen Rücken jagte. Ich spürte sofort, dass die beiden ein Geheimnis hatten.

»Was ist los, Mum?«, wollte Paul wissen, der offenbar auch bemerkte, dass etwas nicht stimmte.

»Wenn die junge Frau behauptet, dass du ihrem Mann aufs Haar gleichst, dann…«

»Ich behaupte es nicht nur. Es ist so. Hier!«, schnitt ich seiner Mutter das Wort ab und reichte ihr ein Hochzeitsfoto von Anton und mir.

Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Um Himmels willen! Wir hätten wissen müssen, dass es früher oder später herauskommt«, schluchzte sie.

»Was denn? Wovon redest du, bitte?«, fuhr Paul seine Mutter an.

»Es ist so, Junge. Deine Mutter und ich… Wir konnten keine eigenen Kinder haben. Deshalb entschlossen wir uns zu einer Adoption. Als das Jugendamt vor der Tür stand und uns mitteilte, dass sie ein Baby für uns hätten, waren wir überglücklich. Im weiteren Gespräch erfuhren wir dann, dass du noch einen Zwillingsbruder hattest. Deine Mutter wollte euch beide. Aber es gab noch ein anderes Ehepaar, das schon seit Jahren auf ein Baby wartete. Deshalb hat das Jugendamt euch getrennt. Sie dachten, es wäre für alle das Beste«, erklärte Pauls Vater.

»Das Beste? Wie kann es für Geschwister das Beste sein, wenn man sie trennt? Das darf doch alles nicht wahr sein! Ich bin ein Adoptivkind und wusste fünfunddreißig Jahre lang nichts davon. Wieso habt ihr mir das nicht gesagt? Ich hätte ein Recht darauf gehabt, die Wahrheit zu erfahren. Ich habe… hatte einen Bruder und durfte ihn nie kennen lernen, weil ihr euch angemaßt habt, das so zu entscheiden!«, brüllte Paul.

»Nicht wir, das Jugendamt hat diese Entscheidung getroffen«, verteidigte sich seine Mutter.

»Aber wie konntet ihr so etwas Herzloses zulassen?«, keuchte Paul unter Tränen.

»Wir dachten, wir wollten doch nur, dass…«, stammelte sein Vater.

»Ihr seid nicht meine Eltern. Ihr habt mich mein Leben lang belogen. Das verzeihe ich euch nie«, fauchte Paul und stürmte aus dem Zimmer.

Wie von Furien getrieben, rannte er zum Strand. Ich folgte ihm. Ich war genauso geschockt wie er. Ich konnte Paul gut verstehen. Ich hatte von all dem ja auch keine Ahnung gehabt. Und Anton offensichtlich ebenfalls nicht. Jedenfalls hatte er mir gegenüber nie erwähnt, dass er ein Adoptivkind war. Seine vermeintlichen Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er gerade zur Schule gekommen war. Deshalb war Anton bei seiner Großmutter aufgewachsen. Aber auch die kannte ich nicht persönlich. Sie war verstorben, bevor ich meinem Mann zum ersten Mal begegnet war.

*

Was soll ich denn jetzt tun, Maja? Meine Eltern sind gar nicht meine Eltern. Außerdem hatte ich einen Bruder, den man mir einfach verschwiegen hat. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich jetzt fühle?«, hauchte Paul nur noch.

»Ich schätze, genauso durcheinander, wie ich mich fühle. Du konntest Anton nicht lieben, weil du nicht wusstest, dass es ihn gab. Aber ich habe ihn über alles geliebt. Und wenn ich in dein Gesicht sehe, denke ich, er steht wieder vor mir. Ich weiß, es ist verrückt. Aber für eine kurze Zeit hoffte ich wirklich, er wäre zu mir zurückgekehrt. Doch du bist nicht er. Diese Feststellung tut unsagbar weh! Und was dich angeht, du weißt rein gar nichts über deinen Bruder. Das muss furchtbar für dich sein. Aber vielleicht können wir uns gegenseitig helfen«, stellte ich in den Raum.

»Helfen? Wie denn?«, wollte Paul verständnislos wissen.

»Na ja. Ich könnte dir alles über Anton erzählen. Zumindest alles, was ich über ihn weiß. Es gibt so viele Fotoalben und wunderschöne Geschichten. Wir könnten auch gemeinsam sein Grab besuchen«, schlug ich vor.

»Das würdest du wirklich für mich tun?«, fragte er. Ich nickte.

»Und was könnte ich im Gegenzug für dich tun?«, hakte er nach.

»Du musst eigentlich gar nichts tun, Paul. Natürlich weiß ich jetzt, dass du nicht mein verstorbener Mann bist. Doch du bist sein Zwilling. Ihr seid aus einer Zelle entstanden. Du bist der Mensch, der ihm am nächsten stand, wenngleich ihr euch überhaupt nicht gekannt habt. Dein Anblick und deine Nähe sind sehr tröstlich für mich. Denn ich weiß jetzt, dass ein Teil von Anton in dir weiterlebt. Das lässt mich endlich wieder hoffen«, hauchte ich.

Da ergriff Paul meine Hand und drückte sie ganz fest. Wir spürten beide sofort, dass da etwas zwischen uns war. Aber keiner von uns sprach es aus. Stattdessen liefen wir wortlos den Strand entlang. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Das Schicksal hatte uns zusammengeführt. Was es mit uns vorhatte, wussten wir in dem Augenblick nicht. Aber das war auch noch nicht wichtig. Denn Paul würde sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben müssen. Für ihn gab es noch so viel über seinen Bruder und die gemeinsamen leiblichen Eltern zu ergründen und zu begreifen. Und ich hatte vor, ihn dabei zu begleiten. Das war ich Anton schuldig. Denn es ging ja auch um seine wirklichen Familienverhältnisse. Erst dann, wenn alles restlos aufgeklärt war, würde die Zeit für Paul und mich kommen. Wer weiß, vielleicht gab es dann ja sogar eine gemeinsame Zukunft für uns?

– ENDE –